Zugunglück bei Bad Aibling: Helfer haben alle Toten geborgen
Bei dem Zugunglück in Oberbayern starben zehn Menschen. Es wird laut Polizei niemand mehr vermisst. Berichte über menschliches Versagen als Ursache nennt sie Spekulation.
„Die Lage ist weiter völlig unübersichtlich“, sagt Jörg Becker von der Bergwacht Brannenburg. Da ist es 10.55 Uhr, und er steht an einer Wiese vor dem Zentrum des oberbayerischen Ortes Bad Aibling. „Ich weiß nicht, ob noch Menschen in den Zugwracks sind.“ Man habe alle Verletzten geborgen, die zu entdecken waren. Doch stecken noch weitere Menschen in den Trümmern der beiden ineinandergerasten und zerborstenen Nahverkehrszüge? Bergwacht-Einsatzleiter Becker weiß es zu diesem Zeitpunkt nicht.
Zum ersten Mal kommt er an diesem Tag dazu, kurz durchzuatmen und ein paar Worte zu sagen. Um sieben Uhr am Morgen wurde er alarmiert, wenige Minuten nach dem Zusammenprall. Seitdem ist Becker im Dauereinsatz bei diesem Zugunglück, das eines der schwersten in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Auf der Wiese sind stundenlang Rettungshubschrauber gelandet und gestartet, ein Dutzend ist im Dauereinsatz. Sie fliegen zur Unglücksstelle, bergen Schwerverletzte, bringen sie zur Notfallversorgung, etwa ins Feuerwehrhaus im nahen Kolbermoor oder gleich in Krankenhäuser.
Helikopter in der Luft, Rettungswagen am Boden
Am Mittwochmorgen teilte die Polizei mit, sie nicht mit mehr Opfern rechnet. "Es wird niemand mehr vermisst“, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd. Bestätigt ist, dass bei dem Zusammenstoß auf der einspurigen Bahnstrecke bei Bad Aibling, zwischen Holzkirchen und Rosenheim zehn Menschen starben. Gezählt wurden auch 18 Schwerverletzte und 63 weitere Verletzte.
Unter den Toten sind auch die beiden Lokführer und zwei Zugbegleiter. „Nahezu ungebremst“ sind die Züge ineinandergedonnert, berichtete am Dienstag Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) auf einer Pressekonferenz. „Mit sehr hohem Tempo.“
Um die 100 Stundenkilometer würden die Meridian-Züge der Bayerischen Oberlandbahn (BOB) an der Unglücksstelle fahren. Wegen einer leichten Kurve haben sich die Lokführer wohl auch nicht gesehen, vermutet der Minister. Wie konnte das passieren? Dobrindt will zu diesem Zeitpunkt nicht spekulieren, sondern die Untersuchungsergebnisse von Polizei und Eisenbahnbundesamt abwarten.
Erste Ermittlungen haben laut der Deutschen Presse-Agentur ergeben, dass die Tragödie durch menschliches Versagen ausgelöst worden war. Das erfuhr die dpa am Dienstagabend aus zuverlässiger Quelle. Auch einem weiteren Zeitungsbericht zufolge soll das Unglück womöglich auf menschliches Versagen zurückzuführen sein. Der Grund sei demnach offenbar eine "verhängnisvolle Fehlentscheidung" eines Bahnmitarbeiters, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland, dem mehr als 30 Tageszeitungen angehören, am Dienstagabend unter Berufung auf Ermittlerkreise berichtete. Die Polizei bezeichnet solche Bericht als Spekulation.
Am Morgen und am Vormittag donnern die Rettungshubschrauber unablässig in geringer Höhe über die sonst so beschauliche 18 000-Einwohner-Stadt in der Nähe des Chiemsees. Das Rote Kreuz, die Bergwacht und der ADAC haben sie sofort bereitgestellt. Viele Dutzend Krankenwagen fahren durch die ansonsten abgesperrten Straßen, stehen an Plätzen oder am Wegrand. Es ist Faschingsdienstag, doch nach Feiern ist hier keinem zumute. Von der Straße an der Aiblinger Au kommt man auf einem matschigen Feldweg zur Mangfall und zum Mangfall-Kanal, die prächtige Alpenkulisse und die Sonne im Rücken. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lässt sich der Unfallort sehen. Viele Einheimische laufen auf diesem Weg oder radeln, um einen Blick zu erhaschen.
„Das ist schon nicht mehr normal“
Vor dem Rathaus von Bad Aibling, auf dem Marienplatz, haben sich die Fernseh- und Hörfunkteams in Stellung gebracht. Eigentlich sollte im Rathaus das Faschings-Prinzenpaar empfangen werden, das wurde aber am Tag dieser Tragödie abgesagt. Stattdessen ist die Feuerwehr da, es gibt eine Pressekonferenz mit Alexander Dobrindt, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), dem Landrat, dem Bürgermeister und dem Polizeipräsidenten.
Richard Schrank, Kreisbrandmeister und damit oberster Feuerwehr-Chef des Landkreises Rosenheim, steht vor dem großen Sitzungssaal im Rathaus. Wie vielen anderen fehlen auch ihm angesichts des Unglücks die Worte. „Das ist schon nicht mehr normal“, sagt Schrank. Am Morgen wurde er wegen eines „VU-Zug“ alarmiert, da dachte er sich schon: „Das muss was Größeres sein.“ VU-Zug steht für „Verkehrsunfall Zug“.
Von einer solchen Dimension war der Feuerwehrmann aber nicht ausgegangen. Zehn Psychologen seien allein im Einsatz gewesen, um sich um die insgesamt 500 Einsatzkräfte zu kümmern. Die große Hilfe des Nachbarn Österreich lobt Richard Schrank. Auch mit Blick auf die seit Monaten anhaltenden Grenzkontrollen sagt er: „Bei so etwas gibt es keine Grenzen.“ Aus Kufstein sind die Hubschrauber gekommen, die Krankenhäuser in Innsbruck und Salzburg haben Verletzte aufgenommen.
Aus ganz Deutschland wird den Opfern und den Angehörigen Mitgefühl ausgesprochen. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU). Von der SPD, den Grünen und den Kirchen. Doch wie konnte es zu diesem verheerenden Unglück überhaupt kommen? Auf diese Frage weiß an diesem Dienstag noch niemand eine Antwort. Der Zusammenprall sei eigentlich „unmöglich“, sagt Innenminister Herrmann. Denn auf der einspurigen Strecke dürfte nur ein Zug fahren. Um diese Vorgabe einzuhalten, gibt es automatische Stopp-Signale für die Lokführer. Selbst wenn ein Signal übersehen wird, müsste eine angebrachte Notsicherung funktionieren und der Zug sofort automatisch stoppen. Daher ist zumindest klar, dass dieses Notsystem nicht funktioniert hat.
Glück im Unglück: Die Züge waren verhältnismäßig leer
Bernd Rosenbusch, Geschäftsführer der Bayerischen Oberlandbahn, spricht in einer Erklärung von einem „Riesenschock“. Die BOB ist ein privater Betreiber, der dem französischen Bahnkonzern Transdev gehört. Die Meridian-Züge sind laut BOB hochmoderne Züge neueren Datums, sie sind geradezu die Vorzeigestücke der Gesellschaft.
Ein Gutes hat dieser Schreckenstag von Bad Aibling aber vielleicht doch, sagt Polizeipräsident Robert Kopp. Dass das Unglück in den Faschingsferien geschah, wertet er „fast als Glücksfall“. Insgesamt schätzungsweise 150 Fahrgäste waren in den beiden Zügen, das sind verhältnismäßig wenige, und es waren fast ausschließlich Erwachsene. Normalerweise sind die Waggons viel voller, Kinder nutzen sie normalerweise um diese Zeit. Deshalb werden diese Verbindungen auch „Schülerzüge“ genannt. (mit dpa)