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Der einzige Brite unter den reichsten Zehn in Großbritannien. Gerald Cavendish Grosvenor, Herzog von Westminster.
© AFP

London: Hauptstadt der Milliardäre und der Zuwanderer

London: Keine Stadt ist derart begehrt bei Reichen, Armen, Urlaubern und Zuwanderern, wie die britische Hauptstadt. Keine Stadt der Welt hat so viele Milliardäre. Warum das für Einheimische eine große Belastung ist und wie sie damit umgehen.

London ist in einer Erhebung der „Sunday Times“ zur Welthauptstadt der Superreichen geworden: 72 Milliardäre leben der Zeitung zufolge an der Themse, mehr als in Moskau – dort leben 48 Milliardäre – oder New York mit 43 Milliardären. Unter den zehn reichsten Menschen in Großbritannien ist mit dem Unternehmer Gerald Grosvenor, Herzog von Westminster, nur ein einziger echter Brite. Die reichsten Männer Londons sollen die aus Pakistan stammenden Rohstoff-Unternehmer Srichand und Gopichand Hinduja sein. Mit einem gemeinsamen geschätzten Vermögen von 11,5 Milliarden Pfund (14,1 Milliarden Euro) verdrängten die Brüder den russischen Oligarchen Alisher Usmanov (geschätzt 10,65 Milliarden Pfund) auf den zweiten Rang. Der aus Indien stammende Stahlmogul Lakshmi Mittal landete mit einem geschätzten Vermögen von 10,25 Milliarden Pfund auf Rang drei. Die Superreichen sind aber vermutlich überwiegend nicht deshalb in London, weil es eine Stadt der Banker ist. Sie genießen in England die Rechtssicherheit, die sie oftmals in ihrer Heimat vermissen, und sicherlich auch die Annehmlichkeiten der englischen Gesellschaft.

Prinz Charles ist besorgt um Londons Attraktivität. „Seit über tausend Jahren war London ein Mekka für Talente von außen und bot Chancen für seine Bewohner. Wir müssen dafür sorgen, dass es so bleibt.“ Aber nun macht Londons Wachstum nicht nur den Thronfolger schwindelig. Alles an der Themse wächst in den Himmel: Die Zahl der Menschen, der Reichen, der Armen, der Touristen, der Einwanderer, der Wohnungssuchenden. Die Höhe der Mieten, der Wohnungspreise und die Stockwerkzahl der neuen Häuser.

Eine Stadt verliert ihr Gesicht - 288 neue Hochhäuser sollen in London gebaut werden

Als kürzlich ein Architekturjournal meldete, 236 Hochhäuser seien im Bau oder geplant, rechnete die Stadtzeitung „Evening Standard“ nach – und kam auf 288. Eine Ausstellung mit Modellen der zukünftigen Skyline erschreckt Londoner, die noch den von William Wordsworth 1802 besungenen Blick von der Westminister Bridge auf die St.-Paul’s-Kathedrale im Kopf haben. Teile Londons sehen schon jetzt wie Manhattan aus. „Hochhäuser führen zu Entfremdung und sozialen Störungen“, warnt Charles. Besser für London seien Miets- und Apartmenthäuser mit bis sechs Stockwerken an grünen Plätzen. „Damit man auch noch in die Wohnung kommt, wenn der Lift kaputt ist.“

„Die Londoner Skyline ist außer Kontrolle“, schrieb eine Gruppe von 70 prominenten Künstlern, Architekten, Wissenschaftlern und Philosophen im „Observer“. Ohne Konsultation und Debatte sei eine „fundamentale Transformation der Stadt“ im Gang. Zwar seien die meisten Wolkenkratzer Wohnbauten, aber „ihr eigentlicher Zweck ist, Investitionen zu schaffen, nicht harmonische Nachbarschaften“. Die Intellektuellen warnen vor einem „dauerhaften Schaden für Londons urbane Struktur, sein globales Image und seine Reputation“.

Debatte im "Guardian" ergibt große Akzeptanz für Hochhäuser

Andererseits: In einer Onlinedebatte des „Guardian“ hatten die neuen Hochhäuser auffallend viel Unterstützung. Londons Image in der Welt habe immer die Bereitschaft reflektiert, sich zu ändern und anzupassen, schrieb ein User namens „fripouille“. „Die Stadt brodelt vor Energie, ist betriebig und selbstbewusst. Neubauten müssen das in Betracht ziehen.“

London verändert sich so schnell wie seit Jahrzehnten nicht. Sogar die Stadtväter waren überrascht, als die Volkszählung 2011 fast eine halbe Million mehr Einwohner zählte als gedacht. In zehn Jahren wuchs London um zwölf Prozent auf heute 8,3 Millionen. Bald wird die Stadt New York überholen. Wie ein Magnet werden Menschen angezogen, die Chancen, Freiheit, Abenteuer, einen Job und ein neues Leben suchen. Ein „Mekka“, wie Charles sagt.

London ist das Zentrum der kreativen Branchen

In allen Branchen und Bereichen profitiert London vom Gesetz der Agglomeration – wo viele sind, wollen noch mehr hin. Google baut sein Hauptquartier bei Kings Cross, in der Nähe einer Topuni, bei der St.-Martin’s-Kunstakademie, eine Meile vom „Digital Roundabout“, der Start-up-Nabe bei der Old Street. Vor allem kreative Branchen versammeln ihre besten Talente in der Stadt – Computerspiele, Biotechnologie, Film- und Post-Production-Studios, der Kunsthandel, die Modewelt, die Theaterszene.

Amerikanische Banker kommen, „weil man in London die Regierung vor Gericht verklagen und sicher sein kann, dass man einen fairen Prozess bekommt“, wie der frühere Goldman-Sachs-Chef Lloyd Blankfein erklärte. Erst recht wissen Superreiche aus der ehemals totalitären Sowjetunion die angelsächsische Rechtssicherheit zu schätzen. 2011 bezahlte Rinat Akhmetov, der reichste Ukrainer,136 Millionen Pfund für sein Penthouse im Wohnpalast „One Hyde Park“.

Studenten kommen aus aller Welt

Studenten kommen aus aller Welt. Gerade wurde London wieder an den zweiten Platz der „weltweit besten Studentenstädte“ gesetzt – hinter Paris mit seiner besseren Lebensqualität. Aber London hat die beste Mischung von Spitzenuniversitäten. Es kommen Touristen, die Londoner in der Underground wütend machen, wenn sie oben an der Rolltreppe oder vor Ticketbarrieren stehen bleiben und nach ihren Tickets kramen. 2013 waren es 20 Prozent mehr Touristen als im Vorjahr.

Viele Zuwanderer aus Osteuropa

Und es kommen jede Woche zu Hunderten neue Bürger wie Bogumil, der in seiner Heimat Bulgarien Musiklehrer war. In London ist er seit fünf Jahren Fensterputzer. Alle zwei Monate zieht er mit seiner Leiter durch die Straßen und putzt die Fenster seiner Stammkunden. Vor ein paar Monaten stellte er einen bulgarischen Studenten als Helfer ein und kaufte sich ein Klavier. Nun gibt er auch Klavierunterricht. „Ich werde nie mehr nach Bulgarien zurückkehren. Bulgarien ist für den Sommer und das Meer.“

Größte soziale Ungleichheit aller reichen Länder

London boomt – aber die Kluft zum Rest Großbritanniens war nie so groß. London stellt 48 Prozent des derzeitigen britischen Wachstums – 2007 waren es noch 37 Prozent. In einer Radioserie mit dem Titel „Das Land, das früher London hieß“, berichtete die BBC „aus dem Jahre 2030“. In der Radioutopie ist London wie Singapur oder Hongkong ein unabhängiger Stadtstaat geworden, „die multikulturellste Stadt der Welt, ein reiches, liberales Land mit einer diversen Bevölkerung, aber brodelnden sozialen Spannungen und der größten Ungleichheit aller reichen Länder“, so die Programmbeschreibung. Die Hauspreise seien so hoch, dass Putzpersonal, Baristas und Feuerwehrleute aus weit entfernten Städten wie Hastings pendeln müssen. Nur: Fiktiv ist an diesem Zukunftsbericht wenig. London gilt schon heute als die vielleicht am besten integrierte multikulturelle Stadt der Welt. Aber im Sommer 2011 führten die „brodelnden sozialen Spannungen“ zu Krawallen mit Brandstiftungen und Massenplünderungen. London beherbergt schon heute die meisten Superreichen der Welt – aber 28 Prozent sind laut „Armutsprofil 2013“ des New-Policy-Instituts offiziell „arm“ – sieben Prozent mehr als im restlichen England. Nirgendwo in Großbritannien werden schneller mehr Jobs geschaffen als in London – aber die Zahl der Arbeitslosen liegt über dem Durchschnitt bei 8 Prozent.

Mieten und Wohnungspreise explodieren

Die Zahl der Armen steigt am schnellsten unter denen, die Wohnungen mieten müssen. Bis zu 59 Prozent ihres Einkommens gibt eine typische Londoner Familie für Wohnungskosten aus, berichtete die Wohnungsfürsorge Shelter. Der Durchschnittspreis für eine Londoner Wohnung erreichte im Januar einen Rekordpreis von umgerechnet 501 379 Euro – der Anstieg in den letzten zwölf Monaten betrug 13,8 Prozent. Dabei liegt das Londoner Durchschnittsgehalt bei nur 44 500 Euro im Jahr. „Die Preise haben den Bezug zur Realität verloren“, warnen Kreditvermittler. Das Geld internationaler Investoren höhlt das Leben der Stadt aus“, klagte der BBC-Journalist Andrew Marr, als in der Cork Street zwölf Galerien schließen mussten, weil die Häuser in Luxuswohnungen umgewandelt werden. Mitten in den Vorbereitungen einer Ausstellung in der „Tate Britain“ verloren Phyllida Barlow und 400 andere Künstler ihre Ateliers in einer Keksfabrik in Bermondsey, die in Wohnraum verwandelt wird. „Wie sollen Künstler in London noch überleben?“, warnt Tate-Direktorin Penelope Curtis.

Marr erzählt von einer Investorenpräsentation in Schanghai, wo sich ein Chinese eine Wohnung in Nordlondon für mehrere Millionen Pfund kaufte, „für meinen Sohn, wenn er studiert“. Auf die Frage, wie alt der Sohn seit, antwortete der Chinese: Sechs Monate.

Die Bewohner sind trotz der extremen Belastungen erstaunlich aufgeschlossen

Sind Londoner glücklich in dieser Stadt, in der die Eingesessenen um Tradition und Geschichte kämpfen, aber ein steter Strom neuer Menschen unbarmherzig Wechsel und Wandel erzwingt? In der ersten „Happiness“-Umfrage des Nationalen Statistikamts 2012 hatte London die niedrigsten Werte für „Zufriedenheit“ (27 Prozent). Die größte Zahl von Befragten hatte am Vortag Stress (45 Prozent).

Aber eine ausführliche Lebensstilumfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im März 2014 folgerte, dass Londoner ihre Stadt allem Dauerstress zum Trotz als Ort sehen, „wo man seine allgemeine Lebensqualität verbessern kann“. „Die Mehrheit der Londoner glaubt, dass die Stadt ein guter Ort ist, um einen Job zu finden, Geld zu verdienen, etwas Neues zu lernen, ein Hobby zu beginnen, zur Schule zu gehen, Freunde zu finden und sich zu verlieben.“

Im neuesten „Mercer Index“ der Lebensqualität führender Weltstädte steht London nur auf Platz 38 – Berlin auf Platz 16, Wien auf Platz 1. Die Luft in der Stadt ist gesundheitsgefährdend schlecht, die Wohnungen klein und unbezahlbar, und sie liegen weit draußen. Aber irgendwie wiegt die Stadterfahrung das auf. Jedenfalls gab eine Mehrheit von 57 Prozent der Londoner der Lebensqualität ihrer Stadt eine Note in der oberen Hälfte einer Skala von 1 bis 10. Nur 29 Prozent wählten die negative Hälfte.

London ist eine Stadt für junge Leute

Dafür sehen sie London als ungeeigneten Ort, Kinder aufzuziehen oder alt zu werden: Gefragt, für welche Lebensstufe London am besten geeignet sei, nannten 40 Prozent „für Twenties“. Yougovs Ergebnis: „London ist überwältigend eine Stadt für junge Menschen.“

Dazu passt das Durchschnittsalter der Londoner, das mit 33 Jahren sechs Jahre unter dem Durchschnitt Großbritanniens liegt – und die ungeheure Mobilität. Hunderttausende ziehen jedes Jahr in die Stadt oder aus ihr wieder hinaus. Die große Mehrheit der Londoner ist aus anderen Städten Großbritanniens oder aus dem Ausland hergezogen – erstaunliche 37 Prozent der Londoner sind nicht im Königreich geboren.

Und wofür kämpft Prinz Charles?

Prinz Charles kämpft für das alte London – „eine Serie von Nachbarschaftsstädten, die Identität und ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln“. Aber London, gegründet von eingewanderten Römern, war immer eine Stadt des Kommens und Gehens. Viele leben hier nach dem Motto, „Stadtluft macht frei“; um Identität zu finden, nicht um Lebensformen zu bewahren. „Es hat keinen Sinn, in London leben zu wollen“, schrieb der Journalist Christian Oliver in einem Erfahrungsbericht in der „Financial Times“ und meldete sich nach langer, vergeblicher Suche nach einem Haus wieder ins Ausland ab. Aber fast jede der beliebten „Was ich an London hasse“-Listen zitiert auch den alten Spruch des Londoner Essayisten Samuel Johnson aus dem 18. Jahrhundert: „Wer Londons überdrüssig ist, ist des Lebens müde.“

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