2. Jahrestag: Haiti - die unendliche Katastrophe
Zwei Jahre nach dem großen Beben leben in Haiti noch immer Hunderttausende in Zelten. Die Lager werden zu ständigen Einrichtungen, weil kein Ende des Elends absehbar ist.
Es war eine der schlimmsten Naturkatastrophen, die die Welt erlebt hat: Vor zwei Jahren bebte am 12. Januar in Haiti die Erde – Trümmer rissen mindestens 220 000 Menschen in den Tod. Das genaue Ausmaß wird in diesem zerfallenen Land wohl nie jemand beziffern können. Auch wenn zum Jahrestag eine wahre (Rechtfertigungs-)Schlacht der Zahlen von Schulen, Toiletten und Übergangshäusern tobt, die seither errichtet wurden. So, als könne man damit das Elend bannen. Doch tiefe Armut und Arbeitslosigkeit sind trotz all der Hilfe auch 24 Monate nach dem Zusammenfall der Hauptstadt Port-au-Prince und quasi dem Rest der kläglichen politischen und administrativen Strukturen noch immer Alltag. Selbst die Trümmer sind längst nicht alle beiseitegeschafft. Und nur ein Bruchteil der anfangs aus aller Welt zugesagten Milliarden ist nach internationalen Angaben dort angekommen. Auch viele Spendengelder sind lediglich „verplant“, wie es in den Berichten der Organisationen heißt. Gründe dafür gibt es viele.
Internationale Organisationen weisen jenseits der eigenen Erfolgsbilanzen auf mangelnde Koordination durch die haitianische Regierung hin, wenn es darum geht, warum der Wiederaufbau noch nicht weiter vorangekommen sei. Politische Instabilität und fehlende Infrastruktur sind die Stichworte. Nicht zu Unrecht. Unter anderem arbeitet die erst nach langem und mit harten Bandagen geführtem Wahlkampf schließlich ernannte Regierung unter Präsident Michel Martelly noch nicht allzu lange. Auch sie hat bisher kein allzu gutes Zeugnis bekommen. Viele Länder hatten mit Hinweis auf korrupte Machenschaften zur Zeit der Vorgängerregierung ihre Gelder zurückgehalten. Anteil an der Unordnung haben aber auch Hilfsorganisationen, von denen ein Teil von Anfang an keine Lust hatte, sich auf Koordination einzulassen, weder durch Haitianer noch UN. Dass sich der amerikanische Ex-Präsident Bill Clinton zum Ko-Chef der Wiederaufbaukommission (neben Ex-Premier Jean-Max Bellerive) hat berufen lassen, weckte bei manchen große Hoffnungen, rief aber auch zahlreiche Kritiker auf den Plan. Viele nennen ihn wenig schmeichelhaft „Zar des Wiederaufbaus“. Unbestreitbar sitzt er an einer Schaltstelle der Macht in dem weiterhin recht chaotischen Land. Für eine Bilanz dürfte es aber noch etwas früh sein.
Jenseits vieler Eitelkeiten haben zudem auch in Haiti Mechanismen gegriffen, die in so vielen Krisengebieten zusätzlich zu korrupten Strukturen die Summen für die Opfer schmälern. Rasch stiegen nach dem Beben die Preise für alles, das die ins Land strömenden Ausländer brauchten: Mieten für Häuser und Autos erreichten astronomische Höhen. Auch, weil die sogenannten „Internationalen“ die verlangten Preise zahlten und eine Eskalation begann.
Und wie sieht die Lage im Januar 2012 nach Einschätzung derjenigen aus, die einen Überblick haben sollten? Mehr als eine halbe Million Haitianer leben weiterhin in Zeltlagern – zum Teil ohne Toiletten und sauberes Wasser. 707 Lager hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) zum Jahrestag gezählt. Damit sei deren Zahl um 66 Prozent geringer als im Sommer 2010, teilt sie stolz mit. Viele, die inzwischen anderswo unterkamen, haben laut IOM einen Jahreszuschuss zur Miete bekommen. In Haiti muss man die Miete ein Jahr im Voraus zahlen. Was passiert, wenn dieses Geld aufgebraucht ist? Viele, die in Portau-Prince arbeiten, wissen längst, dass die großen Zeltstädte inzwischen praktisch bereits neue Stadtteile geworden sind. Die Menschen werden sie nicht mehr verlassen. So wie das Riesenlager Sineas in Port-au-Prince.
Die Kindernothilfe versucht, sich auf diese Situation in Sineas einzustellen. Das Kinderzentrum, das sie 2010 in diesem Viertel der Planen eingerichtet hatte, ist inzwischen zu einem Bildungscenter erweitert worden, in dem auch Jugendliche und Erwachsene geschult werden, berichtet Mitarbeiterin Katja Anger. Auch die Kinder, die dort heute auf Schiefertafeln schreiben lernen, werden ihr Land mit aufbauen müssen. Das so lange ans Chaos gewöhnte Land wird weder in den nächsten zwei noch in fünf Jahren dem Elend entkommen sein.
Zum Zentrum gehört auch ein Garten. Vor einem Jahr war er ein zarter Versuch, ausweislich der aktuellen Fotos ist er im tropischen Klima zu einer grünen Speisekammer gewachsen. Auch die Anwohner der Zeltstadt pflanzen inzwischen Grün, berichtet Katja Anger. Ein weiteres Zeichen dafür, dass sie sich einrichten.
Sineas ist keiner der fürchterlichen Slums, die es in der Stadt gibt, aber auch hier gibt es gravierende Probleme jenseits der alltäglichen Versorgung, etwa häusliche Gewalt. Auf lockere Art versuchen Jugendliche das Thema anzusprechen, die als „Cool Cats“ organisiert sind. Sie singen darüber Lieder – und die Leute fangen an, über das Thema zu reden.
Im Slum Wharf Jeremie am Hafen fielen kaum Häuser zusammen, denn dort stehen vor allem Wellblechhütten. Hier wohnen viele Restavek-Kinder, mit dem Beben stieg ihre Zahl noch einmal. Viele Kinder, die ihre Eltern verloren, suchten ihr Heil in einer in Haiti weitgehend akzeptierten Tradition: Sie boten sich nach dem Beben als eine Art moderne Sklaven anderen armen Familien an. Sie arbeiten für sie, um zu überleben. Es wird lange dauern, bis sich das Grundübel ändert. Aber zum Jahrestag gibt es für die Kinder, die auf dieser Müllhalde wohnen, eine Verbesserung: Nach vielem Ärger nicht zuletzt um die Landrechte (selbst an diesem Flecken!) eröffnet die Kindernothilfe am Donnerstag endlich die Schule wieder. Für 250 Kinder.
Jenseits all der äußeren Widrigkeiten machen es manchmal auch die Opfer selbst den Helfern schwer. Ein Beispiel ist Marie Julie Guerrier-Dumé. Die junge Laborantin hatte durch das Beben einen Arm verloren. Mit großem Engagement setzten sich die Organisationen Humedica und Landsaid dafür ein, ihren sehnlichen Wunsch zu erfüllen: eine Armprothese. Marie Julie wusste, dass eine lange Physiotherapie nötig ist, um mit dem Kunstarm umzugehen. Aber zur Therapie kam sie nicht. Sie habe trotz langer Wartelisten sogar von einer Organisation eine zweite teure Prothese bekommen, „möchte aber doch beide nicht tragen“, berichtet Caroline Klein von Humedica. Nach mehreren Gesprächen mit Marie Julie ist sie sehr enttäuscht.