Kältewelle in den USA: Frieren im "Land of the Freeze"
Die Temperaturen steigen: nur noch 21 Grad minus in Detroit, nur noch 13 in Chicago. Nach wie vor hat die Jahrhundertkälte die USA fest im Griff und lässt das Leben von etwa 200 Millionen Menschen erstarren. Amerika, das sich stolz „Land of the Free“ nennt, hat jetzt einen neuen Namen.
Anna Mertin* hütet jetzt den größten Teil des Tages das Bett. Am Dienstagabend hat der Husten angefangen, kurz nachdem sie aus New York am Fernbahnhof Union Station in Washington angekommen war. „Es war so kalt.“ „Es war so kalt.“ „Es war sooo kalt.“ Diesen Satz wiederholt die 43-Jährige noch einige Male, als sie bei einem heißen Tee von der vielleicht kältesten Nacht ihres Lebens erzählt.
Während die arktische Kälte aus dem amerikanischen Mittleren Westen in der Nacht zu Dienstag auch über die Ostküste der Vereinigten Staaten hereingebrochen war, hatte die Touristin in ihrem warmen Hotelbett in Manhattan, in Greenwich Village, gelegen. Den Tag über war sie noch durch die Stadt gebummelt und hatte sich mit Wolle eingedeckt. Wolle in Form von Stulpen, Strümpfen, richtig warme Pullover waren in vielen Geschäften ausverkauft. Mitten in der Nacht jedoch ging der Alarm los. Evakuierung, hieß es da, raus in minus 15 Grad und „lebensgefährliche Windchill-Werte“, wie die Notfallbehörde der Metropole gewarnt hatte.
"Polar Vortex" - den Begriff kennt nun jeder
Mertin hatte eine leichte Schlaftablette eingenommen. Ganz benommen war sie gegen halb drei Uhr in der Nacht deshalb aus den Kissen hochgeschreckt. Eine Sirene schrillte durch das Hotel. In aller Eile schlüpfte die Frau in ihre Fellschuhe, warf sich einen Mantel über und zwängte sich die enge Stiege des New Yorker Hotels aus dem fünften Stock ins Parterre hinunter. In der Lobby stand kniehoch das Wasser. Die Kälte hatte die Rohre zum Platzen gebracht, wie an vielen Orten im Land in dieser Nacht. Eine halbe Stunde stand Mertin dann in der Eiseskälte, bis einer der New Yorker Feuerwehr-Trucks kam, die in der kältesten Nacht des Winters seit Jahrzehnten pausenlos ausrücken mussten, und die Sache reparierte. Nur langsam erwärmt sich ein Land, das im eisigen Polarwirbel eingefroren war.
Um 25 Grad waren die Temperaturen innerhalb weniger Stunden gefallen. Nun, zwei Tage später, scheint auch an der Ostküste das Schlimmste vorerst vorbei zu sein. In Washington wachten die Menschen am Donnerstagmorgen bei milden minus 5 Grad auf, auch in New York war das Thermometer bis zu diesem Wert geklettert. Zudem hat der Wind nachgelassen, der den „Polar Vortex“ – jeder kennt in den USA inzwischen diesen Begriff – so schwer erträglich gemacht hat.
Weiter im amerikanischen Landesinneren ist es zwar noch deutlich kühler, doch selbst bei minus 13 Grad schätzen sich die Bewohner von Chicago schon glücklich. Bald darf dann auch Eisbärin Anana, die der Chicagoer Zoo vorsorglich ins Innengehege geholt hatte, wieder ins Freie. In Detroit allerdings hat der Temperaturanstieg vorerst bei minus 21 Grad gestoppt. Bis zum Wochenende prognostizieren die Metereologen ansteigende Werte. Aus der Karibik soll Wärme kommen – und mit ihr Blitzeis auf den überall im Land noch gefrorenen Böden.
Mindestens 16 Menschen starben
Es wird noch lange dauern, bis wieder Alltag einzieht in den Mittleren Westen, wo in den vergangenen Tagen fast alle Schulen geschlossen blieben, die Menschen kaum ihre Häuser verließen, der Flugverkehr zum Erliegen kam, Notdienste dagegen pausenlos im Einsatz waren und die Energieversorger alle Kapazitäten bis ans Äußerste fahren mussten, um die Menschen in den ebenso dünnen wie schlecht isolierten amerikanischen Holzhäusern vor dem Erfrieren zu bewahren. Nach und nach werden allerdings auch die Auswirkungen der Kältewelle sichtbar.
Mindestens 16 Menschen sind in den vergangenen Tagen durch den Polarwirbel in den USA gestorben, zumeist bei Verkehrunfällen auf vereisten Straßen. Es wird aber auch von Menschen berichtet, die erfroren sind. Ein Obdachloser im südlichen Georgia, heißt es, eine alte Frau in New York, ein Mann, der in Chicago beim Schneeschaufeln eine Herzattacke erlitt. Die Obdachlosenunterkünfte sind überfüllt, Wasserleitungen geborsten, Batterien von Versorgungsgeräten eingefroren, tausende Reisende haben ihr Lager noch immer auf Flughäfen aufgeschlagen, mehr als 500 Bahnreisende mussten auf dem Weg nach Chicago eine Nacht in einem allmählich auskühlenden Zug verbringen und liegen gebliebene Autokolonnen säumen Straßenränder.
Die Niagara-Fälle: ein eisiges Kunstwerk
Wunderschöne Bilder dagegen liefert der Polarwirbel von der Grenze zu Kanada. Die bis zu 50 Meter hohen Niagara-Fälle sind zu einem Kunstwerk aus Eis erstarrt. Das sonst wild schäumende Wasser ist wie in einer Momentaufnahme gebannt. Im ganzen Land experimentieren die Menschen mit dem eisigen Windchill. Kunstwerke entstehen im Flug, wenn verschüttetes oder hochgeworfenes Wasser noch in der Bewegung erstarrt. Drei Brüder in Minnesota schufen die Skulptur eines fünf Meter langen Hais im Vorgarten ihrer Eltern. Im kältesten Bundesstaat der USA ist der Hai ein Kunstwerk von einiger, eisiger Dauer.
Und dem Polar-Vortex ist kein Entkommen. Das hat Robert Vick schmerzlich erfahren. Der 42-jährige Häftling war am Sonntag aus einem nur leicht gesicherten Gefängnis, dem Blackburn Correctional Complex, in Kentucky entkommen, wo er eine sechsjährige Strafe für einen Überfall abzusitzen hat. Bei minus 16 Grad mit einem Windchill-Faktor von minus 27 kehrte Vick indes schon am Montag wieder zurück und stellte sich im Sunset-Motel in Lexington, nur wenige Meilen vom Gefängnis entfernt, den Behörden. Er habe ausgesehen, als hätte er absolut genug, berichtete der Manager des Motels später auf dem Fernseh-Sender NBC. „Er war gefroren.“ Bevor Vick ins Gefängnis zurück musste, wurde er zunächst im Krankenhaus behandelt, wegen Unterkühlung und einer Lungenentzündung. Seine Strafe könnte nun nach dem Fluchtversuch um fünf Jahre länger ausfallen.
Vögel sind durcheinander
Nicht nur das Leben der Menschen hat der Polarwirbel durcheinandergebracht. Experten sagen ungewohnte Vogelvorkommen im Süden voraus. Für einige Vogelarten, die normalerweise nicht in den Süden ziehen, sei es einfach zu kalt gewesen. Gefrorene Seen machen es manchen Tieren unmöglich, in ihrem Quartier zu bleiben. Und andere konnten unter den Schneemassen und dem allgegenwärtigen Eis kein Futter mehr finden. „Wenn du eine Ente bist und dein See beginnt zuzufrieren, dann musst du eben nach Süden ziehen“, sagt Brian Sullivan, ein Ornithologe, der den Vogelflug beobachtet. Im nächsten Jahr könnten Menschen im Süden ganz unerwartete Vogeljunge zu sehen bekommen.
Überraschende Bilder erreichen die Menschen aber auch jetzt schon aus dem Süden. Bei vergleichsweise milden fünf Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt haben die Zitrus-Farmer in Louisiana Anfang der Woche all ihre Erntehelfer zusammengezogen. Eingepackt in warme Pullover und dicke Jacken pflückten und sammelten Arbeiter unter Hochdruck Orangen. Aus Florida gibt es ähnlich ungewohnte Bilder von Erntehelfern mit dicken Handschuhen. Dort pflücken Farmer und ihre Landarbeiter Grapefruits, Orangen und Zitronen im noch nicht ganz reifen Zustand. Die Früchte werden den Markt in den nächsten Tagen überschwemmen. Aber immer noch besser, als die Ernte verkommen zu lassen.
Windchill-Temperaturen von minus 50 Grad
Anna Mertins ursprünglicher Reiseplan hätte sie von New York zunächst nach Montana und dann erst nach Washington geführt. Jetzt ist sie froh, diesen Teil ausgelassen zu haben. „Mit Windchill-Temperaturen von minus 50 Grad“, beschreibt ein Mann aus Montana im Netz die Situation in den nördlichen Rocky Mountains, „frieren die Gedanken in deinem Gehirn ein, sobald du die Mütze vom Kopf nimmst“.
Ohnehin nehmen viele Amerikaner die Eiszeit wie jede Kältewelle und jeden Schneesturm mit Humor. Unter der Rubrik „polar vortex“ werden Sprüche gesammelt. „Ich habe mir einen Zahn an meiner Suppe ausgebissen.“ „In Maine haben sich Hummer selbst in die Kochtöpfe geworfen.“ „Es ist so kalt, ich habe gerade einen Teenager gesehen, der seine Hose tatsächlich hochgezogen hatte.“ Amerika, das sich stolz „Land of the Free“ nennt, heißt hier jetzt „Land of the Freeze“.
Aus dem gewohnten Rhythmus
Die arktische Kälte hat in den Vereinigten Staaten das Leben von etwa 200 Millionen Menschen erstarren lassen oder aus dem gewohnten Rhythmus gebracht. Die Bevölkerung der betroffenen Bundesstaaten war zu Vorsorgemaßnahmen aufgerufen worden. Wasserhähne sollten tröpfeln, um ein Einfrieren zu verhindern, Badewannen und Gefäße mit Wasser gefüllt werden, Trinkwasser gekauft. Lebensmittelvorräte und mechanische Dosenöffner gehörten ins Haus, ebenso wie potenziell notwendige Medizin und Batterien. Zudem sollte man ständig das Radio laufen lassen, für mögliche Notdurchsagen.
Am Donnerstag wollte sich Anna Mertin am Abend wieder aus dem Haus wagen, um ins Kino zu gehen. Das muss jetzt wohl ausfallen. Zumindest im Kino auf der Connecticut Avenue in Cleveland Park, nord-westliches Washington, läuft „American Hustle“ nicht. Das Management entschuldigt sich: „Heizungsprobleme machen einen Betrieb leider unmöglich.“
* Name geändert
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