Oscar Pistorius: Experten zeigen sich wegen des Urteils überrascht
Das Urteil gegen Oscar Pistorius halten viele Experten für zu milde. Andere sehen die Dinge anders. Nach wie vor drohen dem Sportstar bis zu zehn Jahren Haft. Das Strafmaß wird erst später verkündet.
Nicht nur Experten, auch die Öffentlichkeit zeigt sich einigermaßen überrascht. Man hätte glauben können, in einer billigen Fernsehserie zu sein, in der unmittelbar vor dem Höhepunkt der Episode plötzlich der Abspann kommt – und das eigentliche Drama auf die nächste Folge vertagt wird. Ähnliches geschah am Donnerstag im Mordprozess gegen den südafrikanischen Sprintstar Oscar Pistorius: Nachdem die Richterin den 27jährigen von dem Vorwurf des Mordes freigesprochen und gerade zu einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung angesetzt hatte, beendete sie die Urteilsverkündung nur 30 Minuten nach der Mittagspause aus unerfindlichen Gründen abrupt - und vertagte die Fortsetzung auf den nächsten Morgen.
Dort geschah gestern nun genau das, was sich bereits am Vortag überdeutlich abgezeichnet hatte: Statt für einen Mord im Affekt oder eine bewusst in Kauf genommene Tötung wurde Pistorius von der schwarzen Richterin Thokozile Masipa nun zumindest noch wegen der fahrlässigen Tötung seiner Freundin aus einer Art Unachtsamkeit heraus verurteilt. Die Richterin sah es jedenfalls als erwiesen an, dass der Waffennarr bei seinen Schüssen auf die kleine Toilettentür den Tod der dahinter befindlichen Person nicht in Betracht gezogen habe. Statt jedoch wie eine vernünftig handelnde Person in der gleichen Lage die Polizei zu alarmieren oder vom nahen Balkon um Hilfe zu rufen, habe Pistorius „überstürzt gehandelt“ und „übermäßige Gewalt“ eingesetzt, als er den vermeintlichen Einbrecher mit geladener Pistole konfrontiert und vier Schüsse mit einer sehr scharfen Munition auf die Toilettentür abgefeuert habe.
Oscar Pistorius hat viel Glück gehabt
Mit dieser sehr eigenwilligen Auslegung des Tatverlaufs hat Pistorius nach Meinung fast aller Rechtsexperten sehr viel Glück gehabt, auch wenn ihm jetzt theoretisch noch immer bis zu zehn Jahren Haft drohen. Eine Strafe im oberen Bereich ist schon deshalb möglich, weil die Richterin den Sportler zusätzlich wegen des nachlässigen Herumhantierens mit einer geladenen Waffe in einem Restaurant für schuldig befand. Bei dem Vorfall hatte sich ein Schuss gelöst und war in den Boden eingedrungen – direkt neben den Fuß eines Freundes.
Überraschend wurde Pistorius jedoch in einem weiteren Fall des Verstoßes gegen das Waffengesetz für nicht schuldig befunden worden. So sollte er nach Aussagen von zwei Freunden im Anschluss an eine Polizeikontrolle aus Wut über das Vorgehen des Beamten durch das geöffnete Sonnendach des Autos geschossen haben. Diese Version der Dinge wurde von der Richterin ebenso zurückgewiesen wie der Vorwurf, er habe illegal gefährliche Munition in seinem Haus deponiert.
Mildes Urteil
Die Experten am Kap sind über das milde Urteil der Richterin und ihre Logik derweil tief zerstritten. Der Rechtsexperte David Dadic findet es nur schwer nachvollziehbar, dass die Richterin den Sportler als einen ausgesprochen schlechten, ausweichenden Zeugen beschrieb, um am Ende dennoch in weiten Teilen seiner Darstellung des Tathergangs zu folgen. Ebenso verblüffend sei, dass die Richterin die extrem emotionale Reaktion von Pistorius nach den tödlichen Schüssen als konkreten Beweis dafür wertete, dass dieser ohne Tötungsabsicht auf die Toilettentür geschossen habe. Besonders umstritten ist unter vielen Beobachtern jedoch die Interpretation der Richterin, dass Pistorius bei seinem Vorgehen keine Tötungsabsicht gehabt habe. James Grant, ein Rechtsexperte der Universität Witwatersrand in Johannesburg, sagte, ihm falle es schwer zu verstehen wie Pistorius vier Schüsse mit scharfer Munition in eine winzige Toilette abfeuern aber nach Ansicht der Richterin nicht vorausahnen konnte, dabei womöglich eine Person zu töten.
Nach der nun erfolgten Verurteilung für fahrlässige Tötung und Verstoß gegen das Waffengesetz erwartet Pistorius nun eine Haftstrafe bis zu zehn Jahren, Allerdings könnte der Sportstar weit glimpflicher davonkommen und womöglich einen Teil der Strafe im Hausarrest absitzen. Da die Richterin freies Ermessen hat, wäre sogar nur eine Geldstrafe möglich. Dies würde jedoch fast sicher zur Folge haben dass der Staatsanwalt in Berufung geht. Von Pistorius ist das kaum zu erwarten. Reeva Steenkamps Familie hat offenbar genug von all dem Trubel und den vom Verfahrenen geöffneten emotionalen Wunden; sie will mit dem Prozess abschließen. Ihre Mutter June, die weite Teile des Prozesses verfolgt hatte, ließ wissen, dass sie Pistorius vergeben habe. Das genaue Strafmaß wird nun am 13. Oktober bekanntgegeben. In dieser Zeit haben Anklage und Verteidigung Gelegenheit, dem Gericht weitere Aussagen von Psychiatern und Sozialarbeitern zur Findung eines adäquaten Strafmaßes vorzulegen.
Nach dem Schuldspruch darf Pistorius nun zunächst wieder in das Haus seines Onkels zurückkehren, wo er seit seiner Freilassung auf Kaution im vergangenen Jahr wohnt. Sein Fluchtrisiko wird vom Gericht trotz des Verkaufs aller Immobilien am Kap als gering eingestuft. Die gegenwärtige Kaution wurde deshalb zu gleichen Konditionen verlängert. Südafrikanische Rechtsexperten sind der Ansicht, dass der Sportler nach der Verkündung des Strafmaßes in vier Wochen in ein Gefängnis gebracht werden muss.