Justiz und Familie: Es gibt ein Recht auf Kenntnis der Abstammung - aber nicht immer
Eine 66-Jährige klagt darauf, einen Mann zum DNA-Test zu zwingen, den sie für ihren Vater hält. Aber darauf gibt es keinen Anspruch, urteilt das Bundesverfassungsgericht
Inge Lohmann muss weiter mit der Ungewissheit leben, wer ihr Vater ist. Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag ihre Beschwerde zurückgewiesen, mit der sie ihre Abstammung klären lassen wollte. Zwar ist die Möglichkeit, verfügbare Informationen über die eigene Herkunft zu erlangen, im Grundgesetz geschützt. Aber daraus folge noch kein „Anspruch auf Klärung der Abstammung“, sagte Gerichtsvizepräsident Ferdinand Kirchhof bei der Verkündung in Karlsruhe.
Für die 66 Jahre alte Klägerin aus Coesfeld in Nordrhein-Westfalen dürfte das Urteil ein weiterer psychischer Tiefschlag sein. Jenen Mann, der noch lebt und den sie für ihren Vater hält, auf eben diese Vaterschaft zu prüfen, ist ihr zum Lebenstrauma geworden, das sie mit ihrem jahrelangen Rechtsstreit mildern wollte. Lohmann liebt Kinder, sie hat drei eigene und eine adoptierte Tochter und betreute zahlreiche Pflegekinder. Umso weniger ist ihr verständlich, dass ein Vater vom eigenen Kind nichts wissen will.
Inge Lohmann war 14 Jahre alt, als die Mutter ihr anvertraute, wer ihr Vater sei. Sie traf ihn mal in einer Gaststätte, hatte später gelegentlich Kontakt zu ihm. Er war auch der Mann, der ihre Geburt beim Standesamt angezeigt hatte. Aber er war nicht der Mann, der sich zu ihr bekannte, der mit der Familie lebte. Dort war ihr Stiefvater, ein aus dem Gefängnis entlassener Gewalttäter, der die Mutter, die Tochter Inge und ihren Bruder Helmut tyrannisierte. Alkohol, Schläge, Missbrauch. Anfang der sechziger Jahre erstach Helmut den prügelnden Stiefvater, eine gerechtfertigte Nothilfe, entschied die Justiz. Zwei Jahre danach erfuhr Inge Lohmann, wer eigentlich ihr Vater sei. Die Mutter hatte es schon Jahre zuvor klären lassen wollen, mittels Blutproben und einem erbbiologischen Gutachten. Vergeblich. Eine entsprechende Klage wies das Landgericht Krefeld ab.
Seit 1972 ist die Mutter tot, der Kontakt zum vermuteten Vater schlief ein. Heute, bald 90 Jahre alt, will er nichts von seiner angeblichen Tochter wissen. Ermuntert von Gerichtsurteilen, die ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung postulierten, berief sich Inge Lohmann auf einen 2008 im bürgerlichen Gesetzbuch eingefügten Paragrafen. Demzufolge sind Vater, Mutter und Kinder einander verpflichtet, auf Verlangen in eine genetische Untersuchung einzuwilligen, wenn die leibliche Abstammung eines Kindes geklärt werden soll. Die Vorschrift war nach einem Verfassungsgerichtsurteil eingeführt worden, um heimlichen Vaterschaftstests den Boden zu entziehen. Lohmann hoffte, den Anspruch ausweiten zu können – auf eine generelle Abstammungsklärung, auch außerhalb bestehender rechtlicher Familienbindungen.
Doch ein derartiges Recht, sagte Gerichtsvizepräsident Kirchhof, begründe die Gefahr, dass Personen „ins Blaue hinein“ in ein Klärungsbegehren hineingezogen würden. Ihre Grundrecht wären dadurch „erheblich belastet“. Der Gesetzgeber dürfe zwar ein Verfahren regeln, um eine solche isolierte Klärung zu gestatten; aber die Verfassung gebiete dies nicht.
Tatsächlich geht das Problem tiefer, als ein erster Blick darauf vermuten lässt. Es beginnt schon damit, dass niemand ohne weiteres seine geschlechtlichen Beziehungen offenbaren muss. Würde man einen mutmaßlichen Vater dennoch jederzeit auf Verdacht zum DNA-Test zwingen, könnte dies auch dessen Familienleben belasten, unabhängig vom Ausgang. Überhaupt schwebt über allen Abwägungen die Ungewissheit, die es gerade aufzuklären gilt. Die Verfassungsrichter fürchten deshalb, ein isoliertes Klärungsrecht könne eine „erhebliche personelle Streubreite“ haben.
Noch ein weiterer Befund dürfte die Skepsis der Richter verstärkt haben. So bedeutsam, wie das Recht auf Abstammungskenntnis in den vergangenen Jahren gemacht wurde, muss es für Entwicklung und Seelenleben der Betroffenen nicht immer sein. Damit zumindest argumentierte das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht, das in dem Verfahren eine Stellungnahme abgab, auf welche die Richter sich bezogen. Untersuchungen hätten gezeigt, so das Institut, dass fehlendes Wissen um die eigene Herkunft die Entwicklung von Jugendlichen nicht beeinträchtige.
Etwas, dem Inge Lohman vermutlich widersprechen würde. Doch ihr Fall ist ohnehin ein Sonderfall. Denn theoretisch können Kinder sehr wohl auf den DNA- Test eines mutmaßlichen Vaters bestehen – allerdings nur im Rahmen eines förmlichen Feststellungsverfahrens, einschließlich aller Rechtsfolgen für den Fall, dass der mögliche Vater der echte Vater ist. Das lag nicht im Interesse der Klägerin. Zudem hält sie diesen Weg für sich versperrt, weil die Klage auf Vaterschaftsfeststellung 1955 rechtskräftig abgewiesen worden war. Vielleicht gibt es dennoch Hoffnung: Die Bundesregierung will die geltenden Gesetze überdenken. Vorschläge dazu soll es aber erst im nächsten Jahr geben.
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