Covid-Gedenken in den USA: Ein weißes Meer aus Flaggen
Die USA beklagen schon 675.000 Covid-Opfer. Die Künstlerin Suzanne Firstenberg erinnert mit einer Installation auf der Washingtoner Mall an die Toten.
Ein offizieller Besuch ist derzeit nicht geplant. Aber Joe Biden kann gar nicht anders, als die Installation vor seiner Haustür zur Kenntnis zu nehmen: Sie ist vom Truman-Balkon des Weißen Hauses aus sichtbar.
Als der US-Präsident am Montag in seinem Hubschrauber Marine One abhebt, um nach New York zur Generalversammlung der Vereinten Nationen zu reisen, fliegt er über das weiße Flaggenmeer. An diesem Tag erreichen die USA eine Zahl, die erschüttert: Trotz aller wissenschaftlichen Errungenschaften, trotz aller Fortschritte sind nun bereits mehr Menschen in Amerika an den Folgen des Coronavirus gestorben als an der Spanischen Grippe vor 100 Jahren – mehr als 675.000.
Suzanne Brennan Firstenberg steht Sonntagmorgen am Rande ihres Flaggen-Kunstwerks auf der Washingtoner Mall. Handschuhe, blaue Leinenbluse, ein Strohhut schützt die blonde Frau vor der immer noch intensiven Sonne. Ihre rote Maske nimmt sie auch im Freien nicht ab.
Die Künstlerin will die individuellen Schicksale sichtbar machen
Als sie im Herbst 2020 die kleinen weißen Fähnchen das letzte Mal in den Washingtoner Rasen vor dem RFK Stadium pflanzte, hatten die USA gerade die Schwelle von 220.000 Toten überschritten. Auch das eine Zahl, mit der lange keiner gerechnet hatte.
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Wenn die Zahlen so groß würden, sagt Firstenberg, werde es schwierig, sie zu verstehen. Daher habe sie die Dimension sichtbar machen wollen.
Nach einem „kalten, dunklen Winter habe sie dann diese Installation auf der Mall geplant, sagt die 62-Jährige. „Ich dachte, wir haben das nun bald hinter uns. Also gab ich der Installation den Namen ,In America: Remember’. Ich nahm an, wir würden nun unsere Leben weiterleben, zurück in unsere Büros, die Kinder zurück in die Schulen gehen. Ich wollte die Amerikaner daran erinnern, dass eine von drei Familien in Amerika jemanden verloren hatte.“
Die Normalität lässt auf sich warten
Aber die Normalität sei nicht eingetreten. „Jetzt schauen Sie sich das hier an“, sagt Firstenberg und zeigt auf die riesige weiße Fläche hinter sich. „Jetzt müssen wir uns in Amerika daran erinnern, uns gegenseitig zu schützen. Denn es ist nicht vorbei.“
Rechteck an Rechteck reiht sich auf der riesigen Grünfläche nahe des Washingtoner Monument, auch aus der Luft betrachtet scheint das Kunstwerk kein Ende zu nehmen. Dass die Installation an die weiße Strenge des Arlingtoner Friedhofs auf der anderen Seite des Potomac Rivers erinnert, ist kein Zufall. Dort liegen die Toten der amerikanischen Kriege.
Zwischen den Rechtecken können die Besucher hindurch laufen, die Installation soll begehbar sein. Und sie soll sich entwickeln. Auf manchen Flaggen sieht man in schwarzer Schreibschrift Namen von Verstorbenen und Widmungen.
Angehörige können ihren Verstorbenen Fähnchen widmen
„Randy Westgard. Wir lieben und vermissen dich, Papa“, steht auf einer. Auf einer anderen: „Joseph O’Neal Hinton. Vater, Freund, Bruder. Ein gesunder, starker 78-Jähriger. Er starb am Vatertag – vier Tage, nachdem er positiv getestet worden war.“
Diese Widmungen sind erwünscht. Angehörige können ihren Verstorbenen eine Flagge widmen, entweder, indem sie sich hier vor Ort registrieren und ein Fähnchen beschriften lassen oder, falls die Anreise zu weit ist, im Internet.
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Genau um diese Darstellung individuellen Leids geht es Firstenberg. „Die Botschaft ist: Wir müssen mehr aufeinander acht geben, statt einfach nur unser eigenes Leben zu leben. Die Menschlichkeit, die sich hier darstellt, ist enorm.“
Die Pandemie fand lange im Verborgenen statt
So viele seien alleine gestorben, die Pandemie habe lange im Verborgenen stattgefunden. „Jede dieser Flaggen steht für eine Person in den Vereinigten Staaten, die an Covid-19 gestorben ist. Indem wir jeden einzelnen mit einer Flagge repräsentieren, sagen wir: Dieser Mensch ist wichtig. Das bedeutet Patriotismus für mich.“
Dass die Pandemie in den USA wieder so eskaliert ist, liegt auch an den vielen Impfgegnern im Land. Viele von ihnen nennen sich Patrioten, viele sind Anhänger von Bidens Vorgänger Donald Trump.
Sie betonen, Masken, Abstandsauflagen und Impfvorschriften verletzten ihre individuelle Freiheit. Mit ihrem Kunstwerk macht Firstenberg deutlich, wie hohl diese Argumentation angesichts der vielen Toten klingt.
Die Demokratin Nancy Pelosi besucht das Kunstwerk
Am Dienstag wollte die oberste Demokratin im Kongress, Nancy Pelosi, die Installation besuchen. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses war auch schon im vergangenen Oktober bei dem Kunstwerk.
Dabei erklärte sie, 220.000 Tote sei eine „schier unvorstellbare Zahl“. Schier unvorstellbar sei, dass so etwas in Amerika geschehen könne. Firstenbergs Kunstwerk sei so wichtig, da es die Botschaft aussende, dass sich etwas verändern müsse.
Im Herbst war es noch die Trump-Regierung, die für den Umgang mit der Pandemie verantwortlich war. Inzwischen hat der Demokrat Biden übernommen. Nach anfänglichen Erfolgen ist die Impfkampagne in den letzte Monaten ins Stocken geraten. Auch deshalb hat sich die Zahl der Toten inzwischen mehr als verdreifacht.
17 Tage lang sollen die Fähnchen wehen
Die Fähnchen sollen nun insgesamt 17 Tage lang im Wind wehen. Dann wird das Kunstwerk wieder abgebaut. Wahrscheinlich nicht zum letzten Mal. „Ich werde das so lange machen, wie es dauert“, sagt Künstlerin Firstenberg.
„Jeden Tag tausche ich die Ziffern an der großen Tafel hier vorne aus, so dass wir eine akkurate Zahl zeigen. Und jeden Tag pflanze ich mehr Flaggen. Gestern musste ich mehr als 2600 weitere stecken.“
Damit habe sie nie gerechnet, sagt sie. Als sie im Juni 630.000 Flaggen erworben habe, habe sie gedacht, die brauche sie nie. „Nun musste ich bereits zweimal nachbestellen. Und das werden wohl nicht die letzten gewesen sein.“
Einen Vergleich hebt das Kunstwerk besonders deutlich hervor: den zwischen Ländern, die die Pandemie gut und jenen, die sie schlecht in den Griff bekommen haben.
Am linken Rand des Flaggenfelds, vorne neben dem National Museum of African American History and Culture gibt es ein kleines Areal. Darauf stehen 27 Flaggen. Sie repräsentieren die Zahl der Toten in Neuseeland. „27. Wir in Amerika haben mehr als 670.000 Tote“, sagt Firstenberg. „Das musste nicht sein.“