Polen: Ein spätes Erbe
Ausgerechnet Nichtjuden pflegen seit ein paar Jahren in Polen erfolgreich die lange verschwiegene, reiche jüdische Kultur.
Der Vorraum zieht mehr Passanten an als das kleine Cafe „U Esterki“ selbst. An den Wänden sind Bücher über die jüdische Geschichte der Region aufgestapelt, in einer Glasvitrine liegen hübsche Mesusot aus Ton und Holz, hinter der Verkaufslade gibt es Badesalz und Kosmetika vom Toten Meer. Lange Jahre suchten die Besucher des beliebten Ausflugsziels Kazimierz Dolny nahe der polnischen Hauptstadt vergeblich nach zeitgenössischen jüdischen Spuren rund um die zentral am Altstadtmarkt gelegene Synagoge. Doch seit kurzem funktioniert in dem Gebäudekomplex, der erst vor zehn Jahren an die jüdische Gemeinde zurückgegeben wurde, ein Gästehaus sowie ein koscheres Cafe. Die Synagoge selbst dient schon länger als Museum, eine funktionierende Gemeinde gibt es seit der Shoa keine mehr.
In den paar engen Gässlein rund um die Synagoge von Kazimierz Dolny – nicht zu verwechseln mit dem jüdischen Stadtteil Kazimierz im südpolnischen Krakau – lässt sich das einstige Shtetl erahnen. Vor dem deutschen Überfall auf Polen lebten hier rund 1400 Juden, die Hälfte der Bevölkerung. Heute hat Kazimierz Dolny wieder gut 3600 Einwohner, fast ausschließlich Polen. Die jüdische Geschichte des mittelalterlichen Städtchens an der Weichsel, das im 17. Jahrhundert ein blühendes Handelszentrum war, ist allerdings schon länger fester Bestandteil einer gewissen touristischen Folklore. In der bestbesuchten lokalen Kultkneipe „U Fryziera“ („Beim Friseur“) gibt es „gefillte Fisch“ und „Cymes“, regelmäßig musizieren dort auch Klezmergruppen.
Ausgerechnet Nichtjuden pflegen seit ein paar Jahren in Polen das lange verschwiegene, reiche jüdische Erbe. Nicht weniger als sieben große jüdische Kulturfestivals werden jährlich von Lokalregierungen und dem Kulturministerium teils hoch dotiert. In Krakau ist vor Monatsfrist das 23. Jüdische Kulturfestival zu Ende gegangen. „Wir waren nie ein Klezmerfestival und wollen nie eines werden“, unterstreicht dessen langjähriger Direktor Janusz Makuch den künstlerischen Anspruch. Makuch wuchs unweit von Kazimierz Dolny in einer typischen polnisch-katholischen Familie auf.
Gerade feiert Warschau das zehnte Singer-Festival. Auch hier werden jedes Jahr mehr und anspruchsvollere Workshops angeboten. In beiden Städten bietet sich die enge Zusammenarbeit mit den noch gut funktionierenden jüdischen Kultusgemeinden, jüdischen Stiftungen und der Botschaft von Israel an, doch die Tausenden von Besucher – in Krakau waren allein 15 000 beim Abschlusskonzert – sind fast alle zumindest auf dem Papier katholische Polen.
Für das nach Isaak Bashevis Singer benannte Festival wird die heute verfallene und noch immer kaum bewohnte Prozna-Straße auf das einst hier ansässige Zentrum des jüdischen Warschau in der Zwischenkriegszeit hochgetrimmt. Noch bis Sonntag locken Krämerläden mit kulinarischen Spezialitäten, „jüdische“ Cafes und Galerien lassen in Nostalgie schmachten, eine längst vergangene Zeit wird in idealisierter Form heraufbeschworen. Doch bietet sie die Kulisse zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Ostjudentum – sowie zu zeitgenössischer, radikaler jüdischer Musik, wie sie etwa John Zorns Tsadik-Label mit Erfolg weltweit vertreibt.
Als eine der grundlegendsten moralischen Veränderungen der vergangenen Jahre in Polen hat Konstanty Gebert, der Gründer des jüdisch-polnischen Monatsmagazins „Midrasz“, das neu erwachte Interesse an der jüdischen Kultur bezeichnet. „Polen entdeckt seine jüdische Seele wieder“, freut sich Gebert.
Wiederinszenierungen der Prozna- Straße in Warschau, und sei es nur für eine Woche, erinnern an die Zeit, in der jeder dritte Einwohner der polnischen Hauptstadt jüdisch war. Mit einer jüdischen Population von 350 000, Dutzenden von jüdischen Theatern und Kulturzeitschriften in jiddischer und polnischer Sprache war Warschau damals nach New York das wichtigste jüdische Kulturzentrum. All dies war in sozialistischen Zeiten ein Tabu. „In die Prozna-Straße gingen wir damals, weil es nur dort in Warschau richtige Punker- Nieten gab“, erzählt der DJ und Konzertorganisator Piotr Wierzbicki am Rande eines Konzertes einer polnisch-israelischen Rockband. Von der Geschichte des ganzen Stadtteils rund um den Grzybowski-Platz erfuhr er erst viel später.
Das Judenpogrom von Kielce kurz nach Kriegsende und die antisemitische Kampagne des Jahres 1968 hatten die meisten Holocaustüberlebenden aus Polen vertrieben. Heute bezeichnen sich noch rund 10 000 Polen als Juden. Vor dem Zweiten Weltkrieg dürften es rund 3,5 Millionen gewesen sein. Doch von Jahr zu Jahr werden die jüdischen Gemeinden wieder etwas größer. Im Zuge der jüdischen Kulturfestivals entdecken immer mehr Polen jüdische Wurzeln in ihrer Familiengeschichte. In Krakau etwa zählt die jüdische Gemeinde etwa 100 Mitglieder, dazukommen aber etwa 400, die sich selbst als Juden bezeichnen. Jüdische Stiftungen helfen polnischen Interessenten bei der Suche nach Dokumenten und Stammbäumen. „Eine erste Abklärung war innerhalb weniger als einer Stunde ad hoc am Rande einer Veranstaltung im Jüdischen Historischen Institut möglich“, erzählt eine Warschauerin voller Anerkennung. Doch der Weg zum jüdischen Gemeindemitglied ist langwierig. Für die meisten Polen bleibt es deshalb beim Flirt mit dem Judentum.
Alleine die Tatsache, dass das Adjektiv „jüdisch“ in Polen ein Marketingargument darstelle, sei ein großer Erfolg, betonen jedoch jüdische Aktivisten. Umfragen haben auch gezeigt, dass der Antisemitismus in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen ist. Seit vergangenem Jahr werden auch die lange tolerierten antisemitischen Hassbotschaften polnischer Fussballhooligans gerichtlich verfolgt. Noch sind vielerorts an Stadionmauern und Häuserfassaden Sprayereien zu sehen, die in vielen EU-Staaten handfeste Skandale provozieren würden, doch das Bewusstsein in Öffentlichkeit und Verwaltung nimmt zu. Offen antisemitisch argumentieren manchmal immer noch rechts-konservative Kreise – allen voran das ultra-katholische „Radio Maryja“.
Paul Flückiger