Panorama: Duftwunder aus Kalabrien
Die Bergamotte ist eine kapriziöse Frucht: Sie wächst nur auf einem schmalen Landstrich in Süditalien
Francesco Crispo sitzt in einer Bruchbude. Anders kann man dieses Industrieareal im Süden von Reggio Calabria nicht nennen. Die Dächer sind eingestürzt, Schornsteine geknickt, Fensterscheiben zerschlagen. Ziegelmauern fallen in sich zusammen, Gras und Abfall machen sich breit. Doch über dem verrosteten Tor leuchtet, wie neu, ein gelb-grünes Schild: „Konsortium Bergamotte“. Und Doktor Francesco Crispo ist der Direktor.
Von früher erzählt er, von der Goldgräberstimmung, von den Zeiten, in denen die Bergamotte-Bauern ihre Früchte beim staatlichen „Konsortium“ abliefern mussten, dass sie gesetzlich garantierte Festpreise dafür bekamen und der Staat seinerseits Schulden um Schulden anhäufte, bis die Regierung ausstieg aus dem Geschäft 2002 und der Markt sich „pulverisierte“. Heute hütet Crispo nur noch eine Marke, eine Fassade, eine schöne Internet-Seite, doch die eigentlich modernen Verarbeitungsanlagen des „Consorzio“ laufen nicht, weil sich Erzeugerverbände seit Jahren um sie streiten.
Es ist ja, meint der Direttore traurig, von Anfang an so vieles schiefgelaufen mit dem Gold von Kalabrien. „Sagt Ihnen der Name ,Farina' etwas? Giovanni Maria Farina?“ Crispo wird ein bisschen unruhig. „Das war jener Italiener in Köln, der vor drei Jahrhunderten das ,Kölnisch Wasser' erfunden hat. Und wissen Sie, was die stärkste Duftnote darin ist? Was überhaupt in den meisten Parfums bis heute das Orchester der anderen Düfte erst zusammenhält? Die Bergamotte. Aber weil Farina den meisten Anklang, die meisten Nachahmer am Hof des Sonnenkönigs gefunden hat, hieß sein Produkt bald ,Eau de Cologne', und heute schreibt alle Welt die Kunst der Parfümerie den Franzosen zu. Dass der Hauptbestandteil immer noch von uns kommt, aus Kalabrien, das weiß niemand.“
Ezio Pizzi will die Bergamotte nach Kalabrien gewissermaßen zurückholen. Seinen Hof in Condofuri erkennt man schon von der Küstenstraße aus: Es ist jener mit der gewaltigen, immer blühenden Bougainvillea über der Haustür, diesem violetten Klecks in einem Meer aus dunkel glänzendem Blattgrün. Hunderte von Zitrusbäumen hat Pizzi dicht an dicht ums Haus gepflanzt, Obstgärten wachsen lassen wie aus dem Bilderbuch: hohes Gras, wilde Blumen dazwischen, die Bäume jetzt, im Dezember, schwer behangen mit leuchtenden Orangen. Vor allem aber mit Bergamotte. Pizzi pflückt eine dieser Früchte, die von allem etwas haben: von der Orange die Größe, von der Mandarine die leicht abgeplattete Form, von der Pampelmuse die Farbe und von der Zitrone die Säure. „Aber jetzt kommt das Beste“, sagt Pizzi, und kratzt mit dem Fingernagel nur ein winziges Stück der äußersten Schale ab. Sofort steigt eine Duftwolke in die Nase: scharf und süß und fruchtig-aromatisch zugleich.
„Ein ganz merkwürdiges Wunder“ nennt Pizzi die Bergamotte. Woher sie kommt, weiß niemand. Wenn Kolumbus sie eingeführt hat, wie manche vermuten, warum haben sich dann die Zyprer schon vor 4000 Jahren mit dem „Apfel der Aphrodite“ parfümiert? Eine Zitrusfrucht ist die Bergamotte, gewiss, aber die botanische Feinbestimmung bleibt umstritten. Selbst zur Bedeutung ihres Namens gibt es nur Hypothesen, die vom Arabisch-Spanischen bis zum Türkischen den ganzen Mittelmeerraum einschließen. Kapriziös ist der „Bergamotto“ außerdem. Er fühlt sich nur am Südrand der italienischen Stiefelspitze wohl, von Pizzis Condofuri aus vierzig Kilometer nach Westen, dreißig nach Osten, dann ist Schluss. Höher als zweihundert Meter dürfen die Gärten auch nicht liegen, und wenn die Temperaturen allzu schnell fallen oder der Scirocco aus Afrika allzu heiß herüberweht, dann streikt der Baum. „Dieses Jahr ist es eine Katastrophe“, sagt Pizzi, „wir kriegen nur etwa dreißig Prozent einer normalen Ernte.“ Vom Reichtum von einst träumt der frühere Anwalt und heutige Landwirt schon gar nicht mehr. „Vor vierzig Jahren reichten eineinhalb Hektar Bergamotte, also 500, 600 Bäume, einer Familie mühelos zum Leben. Das entsprach einem Jahreseinkommen von fünfzig- bis sechzigtausend Euro. Schon für elf Kilo Bergamotte-Öl bekam man einen Fiat 500. Heute zahlt man uns 60 Euro pro Kilo.“
Irgendwo im Gebüsch, für Ortsfremde praktisch nicht zu finden, steckt der Betrieb „Citroflor“. Was er produziert, riecht man schon von weitem. Es ist das unverkennbare Aroma, das in diesen Wochen über der ganzen Gegend liegt, der Duft, mit dem die Kalabrier ihre Weihnachtstorten und -pralinen parfümieren, mit dem - über Öllämpchen verbreitet - das Hotel seine Zimmer erfüllt, mit dem man Seifen und Badeschaum anreichert, Körper-Cremes, Likör, Marmelade, Schokolade, Honig, Dessertwein, kandierte Früchte - ja sogar kandierte Peperoni! Es ist der Duft, ohne den selbst der sehr britische „Earl Grey Tea“ nicht denkbar ist. Es ist, natürlich: Bergamotte.
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