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Panorama: Die weichen Flanken der Signora

Europas mächtigster Vulkan Ätna spuckt wie lange nicht mehr – Experten erwarten einen großen Ausbruch

Anne, die Luxemburgerin, bemerkt es als Erste. Sie zieht die Nase hoch, schnüffelt im Kreis herum, dann sagt sie: „Hier schmort Gummi.“ Die anderen schauen sich ungläubig an: Hier, mitten in freier Natur? „Doch, doch, alles ganz normal“, ruft der Schweizer Vulkanführer Andrea Ercolani herüber: „Vielleicht schaut ihr mal die Sohlen eurer Bergstiefel an. Neulich war der Boden hier so heiß, da haben die Fäden gezogen wie der Käse im Raclette.“ Eine Stunde schon ist die Wandergruppe mit Ercolani unterwegs an den oberen Hängen des Ätna. In knapp dreitausend Metern über Meereshöhe stapfen sie über endlose Felder dunkelgraubrauner Lavabrocken; von unten leuchtet azurblau der Golf von Catania herauf, von oben steigen dicke Dampfwolken in den klaren sizilianischen Sommerhimmel.

Die Gipfelregion selbst, etwas über 3300 Meter, ist in diesem Sommer tabu. Zu gefährlich. „Frau Ätna“, wie sie auf Sizilien sagen, belieben zu spucken. Seit drei Wochen geht es Schlag auf Schlag. Zuletzt vergangenen Samstag. Vier „Paroxysmen“, mehrstündige Ausbruchsserien mit spektakulären Lavafontänen, zählt man allein seit Mitte Juli. Und unten in Catania, wo die Forscher vom staatlichen Institut für Geophysik und Vulkanologie (INGV) der kapriziösen Signora auf die Schliche zu kommen versuchen, rechnen sie bereits mit einem großen Ausbruch. „Die Abstände zwischen den Eruptionen werden immer kürzer; der Berg lädt sich zur Zeit kräftig auf“, sagt der Deutsche Boris Behncke, der seit 15 Jahren beim INGV arbeitet: „Im Inneren steigt Magma hoch und braucht Platz. Der Berg schwillt an, das zeigen unsere Satellitenmessungen. Die Frage ist jetzt nur: Wie stabil sind die Flanken? Wann platzt der Ätna aus seinen Nähten?“

Noch war es nicht so weit als Ercolanis Gruppe kürzlich Mittagspause etwa hundert Meter unter dem „Pit-Krater“ machte. Vor einem Jahr war das eine unauffällige Delle im Boden, dann ist über Nacht ein „großes Maul“, wie Behncke sagt, daraus geworden. Aus dem großen Maul dringen Geräusche wie kurze Peitschenschläge. „Vom Wind wegdrehen“, schreit Ercolani noch, dann fegt eine rotbraune Aschewolke über die Gruppe hinweg; feinster, schwefeliger Sand dringt in die Augen, in die Nase, in den Mund. „Keine Angst“, ruft Ercolani, „das macht nicht unser Loch hier, das macht der Nachbarkrater.“ Im großen Maul selbst ist nichts zu sehen. Nur blaue Gase steigen mit jedem „Pfff!“ in lichten Fähnchen auf.

Heute gibt es Andrea Ercolanis Aussichtspunkt nicht mehr. Riesige Lavaströme haben ihn begraben. Das „große Maul“, der inzwischen aktivste Feuerspucker am Ätna, hat um sich herum einen brandneuen, regelrechten Vulkankegel aufgeschüttet. Er macht dem ebenfalls recht jungen Südostkrater, an dessen Flanke er vor drei Wochen höchstens aussah wie eine Warze, mit jedem Ausbruch mehr Konkurrenz.

Und die Flanken, das wissen die Forscher, sind am Ätna das schwächste, das gefährlichste Element. Wenn sie aufbrechen, dann sind Menschen in Gefahr. Dann nützt es nichts, dass das „Vulkangebäude“ des Ätna ungleich gewaltiger und viel weiträumiger ist als das des Vesuv, an dessen Hängen, allen „roten Zonen“ zum Trotz, zwei Millionen Menschen wohnen. Sobald die Flanken reißen, laufen die Lava und die verheerenden „pyroklastischen Ströme“ auch am Ätna weit hinunter.

Nicht nur die verschiedenen Weinbau-, die Orangen-, Nuss- und Pistaziendörfer in Halbhöhenlage, auch die Großstadt Catania auf Meeresniveau sind dem Vulkan schon mehrfach zum Opfer gefallen. Junge, noch unbewachsene Lavazungen fressen sich als unauslöschliche Erinnerung rostbraun durch eine Waldlandschaft. Aus dem quirligen Wintersportzentrum Piano Provenzana hat „die“ Ätna mit schwarzen Schutthalden und weißen Baumgerippen eine gespenstische Mondlandschaft gemacht. Bei einem Ausbruch gelten heute eine Million Menschen als unmittelbar gefährdet.

Am Samstagabend ist der neue Krater ausgebrochen. Und weil zu diesem Zeitpunkt alle freihatten, kam es zu dem, was Vulkanologe Boris Behncke die „Ätna-Party“ nennt: „Die Leute in der Stadt, in Catania unten, haben auf dem Weg zur Pizzeria das Feuer auf dem Berg gesehen, dann sind sie alle ins Auto, viele junge Leute, alle den Berg rauf, alle Straßen komplett verstopft, kein Durchkommen mehr.“

Die Fotografen indes, die Fernsehleute, die Vulkanologen und die Touristenführer, Boris Behncke und Andrea Ercolani – sie waren vorgewarnt. Sie hatten auf ihren Instrumenten gesehen, wie der ganze Vulkan anfing zu zittern. Sie stürzten sich schon vor dem Fahrzeugstrom nach oben. Und sie erlebten mit fünfhundert Meter hohen Lavafontänen ein nächtliches Feuerwerk der Spitzenklasse. Noch können sie solche Spektakel gelassen genießen: Die Lava aus dem neuen, aufstrebenden Krater fließt in ein weit abgelegenes Tal; noch halten die Flanken von Frau Ätna.

Paul Kreiner

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