Hurrikan über Haiti: Die verletzliche Insel
Wenn Inkompetenz auf Korruption trifft– warum Naturkatastrohen für Haiti immer wieder eine tödliche Mischung sind.
Im Südwesten von Haiti herrscht das blanke Elend. Das Wasser geht langsam zurück – nach und nach zeigt sich das ganze Ausmaß der Schäden. Hurrikan „Matthew“ hat Häuser einstürzen lassen, Bäume umgerissen, Straßen und Felder überflutet. „In der Region sind 80 Prozent der Häuser zerstört oder schwer beschädigt. Die Menschen haben alles verloren“, sagt der Projektkoordinator des Arbeiter-Samariter-Bundes, Alexander Mauz, der Deutschen Presse Agentur per Telefon aus Port-au-Prince.
„Meine Kühe, Ziegen und Schweine sind einfach weggespült worden“, erzählt der Bauer Jean-Marcelin Juene. Mindestens 336 Menschen kamen offiziellen Angaben zufolge in dem Wirbelsturm ums Leben, die Rettungskräfte rechnen allerdings damit, dass die Opferzahl noch deutlich steigt. „Im Westen herrscht totale Zerstörung. Die Menschen sind noch immer in einem Schockzustand. Viele haben ihre Häuser verloren“, sagte Holly Frew von der Hilfsorganisation Care.
Schon wieder hat es das bitterarme Haiti getroffen. In dem Karibikstaat lässt sich beobachten, was geschieht, wenn Naturkatastrophen, Inkompetenz, Korruption und Gewalt zusammentreffen. Das Land hatte schon keinen guten Start: Nachdem die erste schwarze Republik der Welt 1804 ihre Unabhängigkeit erklärte, musste Haiti an die früheren Kolonialmächte 90 Millionen Gold-Franc Entschädigung für deren Verlust – die Sklaven – zahlen. Eine kleptokratische Elite plünderte das Land über Jahrzehnte hinweg aus. Hinzu kamen Misswirtschaft und Korruption. Die einst reichste Kolonie im französischen Reich verkam zum Armenhaus der westlichen Hemisphäre. Die Diktatoren François „Papa Doc“ Duvalier und Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier verbreiteten Angst und Schrecken, ihre Schlägertrupps – die Tontons Macoutes – verstümmelten politische Gegner vorzugsweise mit Macheten.
Das Erdbeben von 2010 hat den Staat geschwächt
Ein verheerendes Erdbeben mit mehr als 220 000 Todesopfern warf 2010 das Land in die Steinzeit zurück. Die internationale Gemeinschaft pumpte Milliarden in das Land, Haiti verwandelte sich in eine NGO-Republik, verwaltet von Nichtregierungsorganisationen und den UN.
Die haitianische Politik verlor an Einfluss im eigenen Land. Laut einem Bericht des UN-Wiederaufbaubeauftragten Bill Clinton liefen 90 Prozent der Hilfe an der haitianischen Regierung vorbei, mehr als die Hälfte wurde für Personal, Fahrzeuge, Mieten und Verwaltung ausgegeben. „So wurde der Staat geschwächt, den wir eigentlich unterstützen wollten“, heißt es in dem Report. Viel Geld wurde verschwendet, Dutzende Hilfsorganisationen und UN-Agenturen arbeiteten unkoordiniert nebeneinander her, gute Projekte scheiterten an Korruption und bürokratischen Hürden.
Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Drei Viertel der Bevölkerung leben von weniger als zwei Dollar am Tag. Die radikale Marktöffnung zerstörte die lokale Lebensmittelindustrie. Die extreme Armut und eine nur schlecht ausgebaute Infrastruktur macht das Land besonders verletzlich bei Naturkatastrophen wie jetzt dem Hurrikan „Matthew“.
Eine politische Krise lähmt das Land
Hinzu kommt, dass die politische Krise in Haiti zum Dauerzustand geworden ist. Ein Streit zwischen Regierung und Opposition lähmt das Land. Wegen Manipulationsvorwürfen wurde das Ergebnis der letzten Wahl annulliert. Bereits im Februar schied der frühere Staatschef Michel Martelly ohne gewählten Nachfolger aus dem Amt. Seitdem regiert Übergangspräsident Jocelerme Privert das Land. Eigentlich hätte an diesem Sonntag ein neuer Präsident gewählt werden sollen. Wegen Hurrikan „Matthew“ sagten die Behörden die Wahl ab.
Was Haiti nun braucht, ist eine handlungsfähige Regierung. Luis Almagro, der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, sagt: „Es ist wichtig, dass diese für die Konsolidierung der Demokratie so dringend notwendigen Wahlen so schnell wie möglich abgehalten werden.“ Aber jetzt ist Haiti erst einmal im Krisenmodus – wie schon so oft. (Denis Düttmann, dpa)