Empörung über "Matilda": Der Zar ist ein Heiliger, kein Mensch!
Klerus, Monarchisten und Ultranationalisten in Russland drehen durch wegen des Films "Matilda". Und eine Staatsanwältin auch ein bisschen wegen Lars Eidinger.
Über Kinofilme wird in Russland oft gestritten, aber eine so dramatische und teilweise groteske Auseinandersetzung wie um „Matilda“ gab es lange nicht. Als der Film kürzlich in St.Petersburg voraufgeführt wurde, gab es Sicherheitsvorkehrungen wie vor einem Staatsakt. Spezialeinheiten der Polizei nahmen die Sicherheitskontrollen vor, während der Vorführung stand neben jeder Sitzreihe ein Beamter. Das war keineswegs Hysterie: Zuvor hatte es in St. Petersburg einen Anschlag mit Molotowcocktails gegen das Studio des Regisseurs Alexej Utschitel gegeben.
Die Diskussionen über das Werk begannen bereits vor mehr als einem Jahr. Weit vor der Premiere war sie in den höchsten Sphären der russischen Politik angekommen. Präsident Wladimir Putin wurde vor zwei Monaten gefragt, was er von „Matilda“ halte. Das Staatsoberhaupt rettete sich in die Ausflucht, der Film sei doch noch gar nicht fertig. Urteilen werde er deshalb nicht. Russische Nationalisten haben ihr Urteil jedoch schon lange gefällt: „Matilda“ sei eine unerträgliche Verfälschung russischer Geschichte und gehöre verboten, sagen sie. Die Orthodoxe Kirche lässt sich eine Kampagne gegen den Film viel Geld kosten. In zahlreichen Städten hat sie große Plakatflächen für einen Feldzug gegen das Kunstwerk angemietet.
Die Romanze endete mit der Verlobung des Zaren
Der Film erzählt die Affäre zwischen dem späteren russischen Zaren Nikolai II. und der Ballerina Matilda Kschesinskaja. Die Romanze dauerte ein paar Jahre und endete, als sich der Thronfolger mit Prinzessin Alix von Hessen verloben musste, der späteren Zarin Alexandra Fjodorowna. Nachdem die Bolschewiki den Zaren und seine Familie ermordet hatten, sprach die Kirche ihn heilig. Darin liegt einer der Gründe für die Kampagne von Klerus, Monarchisten und Ultranationalisten gegen den Historienfilm.
Ein Melodram über Kaiser und Tänzerin – nie hätte Viktoria Wassiljewa so heftige Reaktionen erwartet. Sie ist Dozentin an der Staatlichen Universität von St.Petersburg, Philologin und auch Drehbuchautorin. Wassiljewa hat an dem Film mitgearbeitet. Sie unterrichtete die polnische Schauspielerin Michalina Olszanska, die die Hauptrolle spielt, in Russisch. Jetzt ist sie empört über die Vorverurteilung, mit der sich die Filmemacher auseinandersetzen müssen. „Die Leute reden über etwas, was sie noch gar nicht gesehen haben. Das nennt sich wohl Meinungsfreiheit“, sagt sie sarkastisch.
Als im April 2016 der erste Trailer veröffentlicht wurde, kritisierte die Bewegung „Zaristisches Kreuz“ die Filmemacher, der Streifen werfe Schmutz auf das Bild von Nikolai II. Die Kirche stimmte ein: „Matilda“ sei eine „üble Nachrede“ auf den Zaren. „Wir dürfen eine Persönlichkeit dieses Ranges nicht öffentlicher Erniedrigung aussetzen“, sagte Leiter der Abteilung Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, Metropolit Ilarion, der staatlichen Nachrichtenagentur RIA-Novosti.
Am hartnäckigsten aber kämpft Natalja Poklonskaja gegen den Film. Sie war eine junge Staatsanwältin auf der Krim, die nach der Annexion durch Russland mit ihrem Ultra-Patriotismus für die russische Sache schlagartig bekannt wurde. Moskau setzte die junge Frau als Chefin der Staatsanwaltschaft auf der Krim ein. Inzwischen ist Poklonskaja Abgeordnete der Duma. Vor einiger Zeit nun ging sie juristisch gegen den Film vor: Sie forderte den Generalstaatsanwalt Russlands auf, den Film aus dem Verkehr zu ziehen. Der reagierte aber nicht.
Eine Staatsanwältin will den Film nicht zeigen lassen
Dann verfertigte die Juristin Poklonskaja ihr eigenes Gutachten. Die Staatsanwältin kam zum dem Schluss, der Film dürfe nicht gezeigt werden, weil er die Gefühle von Gläubigen verletze. Er mache aus einem Heiligen einen unsicheren und unentschiedenen Menschen. Der Film erwecke den Eindruck, Nikolai II. habe eine sexuelle Beziehung mit Kschesinskaja gehabt, aber das sei erlogen. Nicht hinnehmbar sei es auch, dass der Zar von dem Berliner Schauspieler Lars Eidinger gespielt werde. Der habe auch in dem Film „Goltzius and The Pelican Company“ von Peter Greenaway mitgespielt, den manche für pornografisch halten. Auch das beschädige das Bild des Zaren. Eine Petition für das Verbot des Films erschien auf der Webseite Change.org, mehr als 13.000 Personen unterschrieben.
Der Zar und seine Familie seien Märtyrer, und sie seien einen Märtyrertod gestorben, sagt Regisseur Alexej Utschitel. Aber sie seien nicht für ihren Glauben gestorben. Man müsse sein ganzes Leben betrachten und einen Film daraus machen dürfen. Die Proteste richteten sich auch gegen den Regisseur persönlich, vermutet Viktoria Wassiljewa. Sie könne es nicht beweisen, aber ihre Lebenserfahrung sage ihr, Staatsanwältin Poklonskaja habe sich die Kampagne nicht selbst ausgedacht. Diese habe schon begonnen, bevor die ersten Ausschnitte im Internet zu sehen waren und als praktisch nur ein ganz enger Kreis Informationen über das Vorhaben Utschitels hatte. „Irgendwer muss sie gezielt damit versorgt haben“, vermutet Wassiljewa.
Filmschaffende schrieben einen offenen Brief zur Verteidigung „Matildas“. Darin heißt es, besonders Menschen der älteren Generation wüssten noch gut, was Zensur ist. „Wir wollen nicht, dass unsere Kultur unter den Druck einer neuen Zensur kommt.“ Das Kulturministerium gab den Film mit der Einschätzung „16 plus“ frei. Die Erstaufführung von „Matilda“ ist für den 6. Oktober im Mariinski-Theater in St.Petersburg vorgesehen. Dort, wo Nikolais Geliebte oft auftrat.
Luiza Vafina