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Unfallstelle: Erst am Samstagabend gab es Gewissheit, dass unter den Zugtrümmern keine weiteren Opfer begraben liegen.
© AFP

Frankreich: Lokführer verhinderte noch größere Katastrophe: Der namenlose Held von Brétigny-sur-Orge

Sechs Menschen sind beim schweren Zugunglück im französischen Brétigny-sur-Orge am Freitagnachmittag ums Leben gekommen. Durch seine geistesgegenwärtige Reaktion konnte der Lokführer des französischen Unglückszugs eine noch größere Katastrophe verhindern. Doch von dem Helden wurde bisher weder der Name noch ein Bild veröffentlicht.

Jede Katastrophe hat ihre namenlosen Helden. Mehrere hundert Feuerwehrleute, Sicherheitskräfte, Rettungsmannschaften, Ärzte, Krankenschwestern und viele zufällig am Unglücksort anwesende Personen waren in der Nacht zum Samstag auf den Beinen, um den Opfern des in Bretigny-sur-Orge im Süden der französischen Hauptstadt entgleisten Intercity-Zugs Paris – Limoges zu helfen. Sie befreiten Überlebende aus den Trümmern, brachten sie in Krankenhäuser der Umgebung oder versorgten sie direkt vor Ort. Und nicht zuletzt gilt es den Lokführer des Zuges zu erwähnen, von dem bisher weder der Name noch ein Bild veröffentlicht wurde. Durch seine geistesgegenwärtige Reaktion konnte er eine noch größere Katastrophe verhindern, wie Verkehrsminister Frédéric Cuvillier am Unglücksort hervorhob. Als er vor der Einfahrt in den Bahnhof von Bretigny ungewöhnliche Stöße verspürte, habe der Lokführer sofort Notsignale gesendet. Dadurch sei ein aus der Gegenrichtung kommender Zug noch rechtzeitig gestoppt worden. „Mit seinem außerordentlichen Reflex verhinderte er um Sekunden einen Zusammenstoß mit dem entgegenkommenden Zug“, sagte der Verkehrsminister.

Der Intercity TEOZ 3657 hatte den Bahnhof Paris-Austerlitz am Freitagnachmittag um 16.53 Uhr verlassen und auf der zunächst nach Süden führenden Strecke nach Limoges in Westfrankreich bald seine Reisegeschwindigkeit erreicht. Um 17.14 Uhr, der Zug befand sich noch vor dem Bahnhof von Bretigny, hatte Clément, einer der 385 Passagiere, der sich im hinteren Teil des Zuges befand, den Eindruck, dass der Waggon in die Luft gehoben würde. „Das dauerte etwa zwanzig Sekunden – eine Ewigkeit“, berichtete er der Zeitung „Le Parisien“. Dann habe es einen furchtbaren Krach gegeben. Die Fensterscheiben seien zersplittert. „Die Leute schrieen und duckten sich, um sich vor den Splittern zu schützen.“ Als es dann plötzlich still wurde, sei er aus dem Fenster ins Freie geklettert. Erst draußen habe er beim Anblick der umgekippten, ineinander verkeilten Waggons, die sich zum Teil auf den Bahnsteig geschoben hatten, erkannt, was passiert war: „Ich war fassungslos.“

Ein defektes Metallteil an einer Weiche etwa 200 Meter vor der Einfahrt in den Bahnhof ist möglicherweise die Ursache für die Katastrophe, hatte Pierre Izard, der für die Infrastruktur zuständige Generaldirektor der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, noch in der Nacht zum Samstag erklärt. Dieses Metall, eine Art Klammer, habe sich aus der Fassung der Weiche gelöst. Während der vordere Teil des Zuges weiterbrauste, geriet der hintere Teil mit vier Waggons auf ein Nebengleis, spaltete sich vom vorderen Teil ab, legte sich auf die Seite und prallte auf den Bahnsteig. Durch die Wucht des Aufpralls wurden Trümmer mehrere hundert Meter durch die Luft in den Ort geschleudert. Mehrere auf dem Bahnsteig wartende Personen wurden verletzt. Eine Frau an einem Imbissstand wurde nach dem Bericht eines Augenzeugen mehrere Meter in die Luft geschleudert.

Den Rettungsmannschaften, die kurz nach der um 17.23 Uhr ausgerufenen Alarmstufe Rot am Bahnhof eintrafen, bot sich ein Bild des Grauens. „Ich habe viele Verletzte gesehen, Frauen und Kinder, die im Zug eingeschlossen waren. Die Leute schrieen. Ein Mann lief orientierungslos mit blutverschmiertem Gesicht herum. Es waren Bilder wie aus einem Krieg“, berichtete ein 30-jähriger Mann, der auf dem Bahnsteig gewartet hatte. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurde in aller Eile ein Notlazarett unter einem Zelt eingerichtet, bis die ersten Verletzten abtransportiert werden konnten. Mehrere Hubschrauber waren die Nacht über im Einsatz.

Sechs Todesopfer, 30 Verletzte, unter ihnen acht mit schweren Verletzungen, das ist die am Samstag von den Behörden veröffentlichte vorläufige Bilanz der Nacht. Es ist das größte Eisenbahnunglück seit 25 Jahren in Frankreich. 1988 waren durch einen im Lyoner Bahnhof in Paris entgleisten Zug 56 Menschen ums Leben gekommen. Die Zahl von „mindestens“ sieben Todesopfern, die Innenminister Manuel Valls am Freitagabend genannt hatte, bestätigte sich damit zunächst nicht. Doch es wurde nicht ausgeschlossen, dass sich die Zahl der Toten noch erhöhen könnte, sobald ein am Samstag am Unglücksort eingetroffener Hebekran mit der Bergung der ineinander verkeilten Trümmer beginnen kann.

Trotz der als mögliche Ursache identifizierten Metallklammer an einer Weiche gab es auch am Samstag keine definitiven Antworten auf die Frage, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Sicher scheint, dass der Zug nicht mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr. Mit 137 Stundenkilometern sei er langsamer gewesen als die bei der Durchfahrt durch den Bahnhof erlaubten 150 Stundenkilometer, sagte Verkehrsminister Cuvillier. Doch eine andere Frage ist, ob die Strecke Paris – Limoges technisch überhaupt noch sicher genug ist. Unter Fachleuten gilt sie als „völlig überaltert“, wie Francois Durovray, ein Vorstandsmitglied des Verkehrsverbandes der Region Ile-de-France (Stif), „Le Parisien“ sagte. Insbesondere der Bahnhof von Bretginy sei als „schwarzer Punkt“ identifiziert worden. Weichen und anderes Material stammten noch „aus der Vorkriegszeit“. Seit 2009 gebe es einen Plan für Investitionen über 200 Millionen Euro, aber der Beginn der Arbeiten sei nicht vor 2017 vorgesehen.

Hans-Hagen Bremer

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