Freiburg und die Reaktionen: Der Mord, der Hass, die Stadt
Ein Mädchen ist tot, mutmaßlich ermordet von einem noch minderjährigen Flüchtling. Sofort bricht in Deutschland wieder eine heftige, hasserfüllte Debatte über Flüchtlingspolitik und Willkommenskultur aus.
Das Humane in uns wird immer wieder erschüttert. Wie muss sich eine Familie fühlen, die einen minderjährigen, unbegleiteten Flüchtling aufnimmt, aus Nächstenliebe, der dann zum Mörder wird? Und wie erst fühlt sich eine Familie, die Flüchtlingsarbeit geleistet hat und dann ein Kind verliert, weil ein Flüchtling es umbringt?
Ein Mädchen, Medizinstudentin, ist tot. Am Dienstag wäre sie 20 Jahre alt geworden. Sie war am 16. Oktober bis nachts um 2 Uhr 40 auf dem Freiburger Universitätscampus auf einer Party und fuhr dann mit dem Fahrrad nach Hause. So wie immer. Wie fast jeden Tag. Auf dem Weg, gegenüber dem Fußball-Stadion des SC Freiburg, lauerte ihr - mutmaßlich - ein junger Mann auf, 17 Jahre alt, 2015 aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Und bei einer Freiburger Familie in Obhut genommen.
Am Samstag ist er von der Polizei festgenommen worden, und als bekannt wurde, dass er diese Biografie hat, sind die Klischees, die Vorurteile und Urteile explodiert. Wäre es ein deutscher Täter gewesen – es wäre ein furchtbarer, aber auch alltäglicher Fall in Deutschland gewesen. Der Flüchtling als Täter aber führt geradewegs zurück in jene Debatte, die Deutschland glaubte, seit einiger Zeit mühsam unter Verschluss gebracht zu haben.
Das Klischee vom Fremden, der nach Deutschland kommt und kriminell wird, der vergewaltigt und mordet, ist auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 immer wieder bedient worden und wurde in den sozialen Medien und von interessierten Kreisen tausendfach multipliziert und verbreitet. Wer beispielsweise im Sommer 2015 mit dem Flüchtlingsbeauftragten Sachsens unterwegs war auf Veranstaltungen der vielen besorgten Bürger, der konnte dort immer wieder genau diese Vorstellungen hören.
Was geblieben ist bei denen, die wissen, dass es nur ein Klischee ist, dass man nichts und niemals verallgemeinern kann, genauso bei denen, die wirklich daran glauben, dass Fremde kriminell sind, ist: die Angst. Die Angst davor, dass es passieren kann. Und nun bleibt die Frage offen, ob Deutschland nach dieser Tat ein Land wird, in dem sich noch mehr Menschen denen zuwenden, die wissen, dass man mit diesen Ängsten gut Politik machen kann.
Die Debatte tobt mit großer Wucht
Das Mädchen ist tot. Die Debatte tobt mit großer Wucht. Denn seit Samstag sind sie überall zu lesen, die Postings, die eine direkte Linie ziehen zwischen Merkels Flüchtlingspolitik und dem mutmaßlichen Verbrechen eines Flüchtlings in Deutschland. Es wird verwiesen auf die vermeintlich unterentwickelten Rollenbilder von Flüchtlingen. Auf Ängste, die man jetzt um seine Töchter haben müsse. Denjenigen, die diese Kommentare kritisieren, wird vorgeworfen, ihnen sei die Political Correctness wichtiger als der Tod des Mädchens.
Auch in der Community-Redaktion des Tagesspiegels, wo täglich rund 2000 Kommentare zu unterschiedlichen Themen auflaufen und geprüft werden, ist die Meldung von der Festnahme des jungen Afghanen das Top-Thema. Normalerweise werden rund zehn Prozent der Kommentare zu einem Thema nicht freigeschaltet, weil sie ehrabschneidend, rassistisch oder diffamierend sind. Hier sind es gut 40 Prozent.
Doch es ist auch für die, die keine Ressentiments hegen, die nicht alles in einen Topf schmeißen, schwierig. Denn leugnen lässt sich der Vorgang nicht. Und für die, die professionell damit umgehen müssen, wie Medien, kann es auch zum Problem werden: In der 20-Uhr-Tagesschau am Samstag taucht die Nachricht nicht auf, was auch den Vorwurf der „Lügenpresse“ wieder aufs Neue hervorbringt. Erinnerungen an Köln, an die Silvesternacht werden wach, als es auch einige Tage dauerte, ehe über die Vorgänge berichtet worden ist.
Die ARD sieht sich gezwungen zu erklären, warum sie ausgerechnet in der Tagesschau nichts meldet, einer Sendung, die nach wie vor auf eine Millionen-Einschaltquote kommt. Sie verweisen auf das Alter des Tatverdächtigen, 17 Jahre, ein Heranwachsender, da gelte es besonders sorgsam zu sein.
Wörtlich erklärt die ARD: „Bei aller Tragik für die Familie des Opfers hat dieser Kriminalfall eine regionale Bedeutung.“ Das schreiben sie, als die „Washington Post“ den Fall bereits aufgegriffen hat und viele offenkundige Anhänger des künftigen US-Präsidenten Donald Trump den Subtext, Flüchtling tötet weiße, junge Frau, schon eifrig transportieren.
Verschweigen, so viel ist klar, ist keine Option. Sie ist vielleicht noch gefährlicher, als die Fakten und Nachrichten zu senden, wie sie derzeit eben auf dem Tisch liegen. Auch die Nachrichtenagentur dpa tut dies. Aber auch sie sieht sich genötigt zu erklären, weil sie Kritik von der anderen Seite erntet. Warum wird die Herkunft des mutmaßlichen Täters überhaupt genannt, fragen viele.
Froben Homburger, Nachrichtenchef der dpa, verweist auf Twitter unter anderem auf das „berechtigte Informationsinteresse an den Details zum Täter“, unter anderem wegen der möglichen Gefahr einer Serientäterschaft. Ein zweiter Mordfall könnte mit diesem Fall zusammenhängen. Außerdem hätten die Ermittlungsbehörden selbst live vor laufenden TV-Kameras auf die Herkunft verwiesen. Aber, sagt er, es sei eine „Gratwanderung“.
Die Sonderkommission hat sehr gut und akribisch gearbeitet
Die Leistung der Polizei, sie scheint am Sonntag bereits vergessen zu sein. Dabei hat die Sonderkommission, die zeitweise bis zu 68 Leute umfasste, sehr gute und akribische Arbeit geleistet. Die Forensiker haben beispielsweise aus drei vollen Säcken mit Brombeersträuchern ein auffälliges, 18,5 Zentimeter langes, schwarzes Haar herausgefiltert, sie haben einen schwarzen Schal am Flussufer gefunden, und sie haben an der Haarwurzel wie auch am Schal die gleiche DNA feststellen können. Sie haben stundenlang Videoaufzeichnungen verfolgt und schließlich hat eine junge Polizistin, die gerade ihren Dienst aufgenommen hat, diesen jungen Mann in der Straßenbahn der Freiburger Linie 1 ausgemacht an jenem unglückseligen Tag im Oktober.
Das Mädchen wurde misshandelt, missbraucht und ertrank im Fluss. Ob der Täter sie auch noch selbst ertränkt hat, ist noch nicht geklärt.
Der Junge, von dem man bisher so gut wie nichts weiß, er schweigt. Seine Pflegefamilie, bürgerliche, gutsituierte Leute, steht unter Schock. Die meisten der 220 000 Einwohner der Stadt werden ebenso fassungslos sein.
Einer der sich als Erstes zu Wort gemeldet hat, weil er genau ahnte, was passieren würde, war der Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne). Er mahnte eindringlich zur Besonnenheit. Er rief dazu auf, „die Herkunft des Täters nicht für Pauschalurteile heranzuziehen, sondern den Einzelfall zu betrachten“.
Aber ausgerechnet Freiburg ist auch ein Beispiel dafür, dass die zu manchen Zeiten eher bedingungslosere Willkommenskultur einem zumindest nüchterneren Blick gewichen ist. Es ist eben zu viel passiert im Land, sehr viele Menschen sind gekommen, und wie hätte es da auch anders sein können, als dass es auch zu diesen Abgründen kommen kann? Muss man nicht aushalten, dass die humanitäre Geste, die menschliche Solidarität, stets auch missbraucht wird? Kann es denn aber andererseits eine andere als bedingungslose Humanität geben?
Auch Wochen nach der Tat liegen Blumen, Kerzen, Herzchen am Tatort
Vielleicht wenn der Staat zugeben muss, dass er nicht weiß, wen er sich da alles ins Land geholt hat.
Monate nach den Ereignissen von Köln in der vergangenen Silvesternacht hatte eben jener Dieter Salomon offen ausgesprochen, dass es in den Diskotheken Freiburgs immer wieder auch zu solchen sexuellen Übergriffen gekommen sei. Freiburg ist eine rot-grüne Hochburg, Studentenstadt, aufgeschlossen und linksliberal. Aber auf Nachfrage der „Badischen Zeitung“ kam heraus, dass viele Türsteher keine Flüchtlinge oder andere Ausländer mehr hineinlassen mit der Begründung, dass sexuelle Belästigungen von Frauen, Diebstähle und Gewalt zugenommen hätten.
Salomon nannte in einem Zeitungsinterview junge männliche Ausländer als Täter und forderte ein hartes Durchgreifen der Polizei. Diese wiederum antwortete, sie habe gar keine Kenntnis darüber, es seien keine Anzeigen eingegangen. Nun allerdings, einige Tage vor der Tat im Oktober, soll bereits eine andere junge Frau unweit des Tatorts von mehreren Flüchtlingen sexuell belästigt worden sein.
Am Sonntagnachmittag liegen an der Dreisam auf Höhe des Schwarzwaldstadions, auch noch sieben Wochen nach der Tat, an drei verschiedenen Stellen nahe dem Tatort Blumen, Kerzen, Herzchen und Teddybärchen. An einen Baum geklemmt sind ein rotes Herz aus Pappe und ein Zettel mit Botschaften an die getötete Medizinstudentin. In der Thomas-Morus-Burse, ihrem Studenten-Wohnheim, will am Tag nach der Festnahme niemand mit den Medien sprechen.
Am Sonntagabend kommt es zu einer Kundgebung gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Es sind nicht die Studenten, die hier demonstrieren, sondern wenige Anhänger der AfD. 15 überwiegend ältere Männer sind dem Aufruf gefolgt, sie halten Kerzen und Grablichter in der Hand, einer ein Deutschlandfähnchen. Ihnen gegenüber stehen 300 Gegendemonstranten und brüllen die Redner nieder. „Nazis vertreiben“, rufen sie.
Das Mädchen, das nicht mehr lebt, hatte sich selbst für Flüchtlinge eingesetzt. Die Eltern riefen in ihrer Traueranzeige für die Tochter dazu auf, auf Blumen zu verzichten und stattdessen für einen Verein zu spenden – der sich in der Flüchtlingshilfe engagiert.
(Mitarbeit Frank Zimmermann)