Neues Album "Blue & Lonesome": Der Blues der Rolling Stones - scheppernd, roh und ungeschliffen
Nach elf Jahren bringen die Rolling Stones ein neues Studioalbum heraus. Auf "Blue & Lonesome" spielen sie Blues, wie er sein muss – und kehren damit zu ihren Anfängen zurück.
Der Blues ist eine Ewigkeitsmusik. Denn die Themen, von denen er erzählt, sind so alt wie die Menschheit selbst. Verlieren, Verluste, Verzweiflung. Im strengen Zwölftaktschema berichtet dieser Klagegesang – meist in der Ichform und aus männlicher Perspektive – von dem Loch in der Tasche, das man nicht mehr nähen kann, oder dem Baby, das schon frühmorgens abgehauen ist. Mit der Flüchtigkeit des Pop hat der Blues nichts zu tun. Man kann ihm nicht entkommen, er lässt sich auch nicht wegtrinken.
Sein Studium am Sidcup Art College in London, so erinnert sich Keith Richards in einem BBC-Interview, verbrachte er damit, auf der Toilette Bluesstücke auf der Gitarre nachzuspielen, "wenn sie mich nicht gezwungen haben, eine fette alte Frau zu zeichnen". Diese Sitzungen waren seine eigentliche Schule. "Irgendwann kriegte ich mit, dass diese Bluesmänner hauptsächlich über Sex sangen. Ich hatte aber keinen Sex, offensichtlich fehlte etwas in meinem Leben. Um ein Bluesmann zu sein, muss man wissen, was der Zitronensaft ist, der einem am Bein runterläuft. Diese Jungs, das wurde mir klar, führten ein richtiges Leben. Sie studierten nicht bloß."
Der Blues hat einst die Rolling Stones zusammengeführt, ihren Namen entnahmen sie einem Song von Muddy Waters. Ein halbes Jahrhundert und 200 Millionen verkaufte Tonträger später ist die Band wieder beim Blues angekommen. Ihr neues Album "Blue & Lonesome", das erste seit elf Jahren, enthält ausschließlich Coverversionen von Stücken, die von Bluesgrößen wie Howlin’ Wolf, Memphis Slim oder Willie Dixon stammen. Die Platte, die am nächsten Freitag herauskommt, markiert gleich im doppelten Sinn eine Heimkehr. Sie wurde innerhalb von drei Tagen in den British Grove Studios in Chiswick aufgenommen und ist damit das erste Stones-Album seit dem psychedelischen Experiment "Their Satanic Majesties Request" von 1967, das komplett in London entstand. "Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu", hat Richards konstatiert. "Manche dieser Songs haben wir seit 1962 oder 1963 nicht mehr gespielt. Aber meine Finger können sich noch daran erinnern."
Mick Jagger besingt die Leiden eines Waisenkinds der Liebe
Scheppernd, roh und ungeschliffen – so muss der Blues klingen. Und das tut er auf "Blue & Lonesome". Das Album beginnt mit einer fauchenden Mundharmonika und dem schleppenden Rhythmus von Schlagzeug, Bass und Gitarre, dann barmt Mick Jagger: "I’m just your fool, can’t help myself / I love you baby, and no one else." Die bereits vorab ausgekoppelte Selbstbezichtigung "Just Your Fool", geschrieben von Little Walter, zeigt, wohin die Liebe führen kann. In den Wahn. Wenn sie ihn verlässt, dann will der Mann, den die Frau zum "Fool" gemacht hat, zum Narren, sich ein Gewehr kaufen und um sich schießen.
Für Ironie ist im Blues kein Platz und die Liebe ist immer ein Kampf, bei dem meist der Mann verliert. "Commit a Crime", ein stoisch stampfender Klassiker des Chicago-Blues, handelt von häuslicher Gewalt, bei der am Ende nur ein Ausweg bleibt: Flucht. "I’m gonna leave you woman / Before I commit a crime", singt Jagger, und Mundharmonika und Gitarre wechseln sich wie bei einem Call-and-Response-Muster in der Melodieführung ab. Die Frau, die der Erzähler nun verlassen wird, hat Gift in seinen Kaffee gekippt statt Milch, sie ist das allerböseste Weib. Beim Titelstück "Blue & Lonesome", mit seinen E-Gitarren-Girlanden und der kraftvollen Mundharmonika ein Höhepunkt des Albums, besingt Jagger wie ein heulender Wolf die Leiden eines Waisenkinds der Liebe: "Baby, ple-e-ease / Come on back home to me." Im Blues reicht es nicht aus, einsam zu sein. Man muss verlassen worden sein. Der Titel der Platte verweist auf Little Boy Blue and the Blue Boys, Jaggers und Richards’ erste gemeinsame Band. Die beiden sollten bei einem Konzert von Alexis Korners Blues Incorporated ihrem künftigen Kollegen Brian Jones begegnen.
Die Urszene der Rolling Stones spielt 1961 auf dem Bahnhof von Dartford, einem Vorort von London. Keith Richards und Mick Jagger, die beide von dort aus in die Hauptstadt pendeln, kommen miteinander ins Gespräch, weil sie Platten dabeihaben. "Er hatte das echte Zeug", wird sich Richards später erinnern – Alben von Muddy Waters, Chuck Berry und Sonny Boy Williamson. Als die Band 1964 ihr Debüt veröffentlicht, enthält es mitreißende, noch etwas ungelenk gespielte Rhythm-’n’-Blues-Nummern, die größtenteils vom Blues-Label Chess aus Chicago stammen, darunter "Route 66" und "Can I Get a Witness". Bloß die Beatle-eske Ballade "Tell Me" hatten Jagger und Richards geschrieben. Um den Output zu steigern, soll der Manager Andrew Loog Oldham den Sänger und den Gitarristen eingesperrt haben, mit der Anweisung, sie dürften erst mit einem fertigen Song wieder rauskommen.
Eric Clapton hat er bei zwei Songs die Leadgitarre übernommen
"Für meine Generation war der Blues das, was für die weißen Jugendlichen von heute der Rap ist – sehr weit weg vom eigenen kulturellen Background", hat Mick Jagger gesagt. Er und seine Kompagnons entstammten Mittelklasseverhältnissen. Sie waren irritiert, als sie bei einem Besuch im Chess-Studio ihr Idol Muddy Waters trafen. Er stand auf einer Leiter und strich die Decke. Ein Genie als Handlanger. Den Blues muss man leben, man kann ihn nicht studieren.
Was herauskommt, wenn man es trotzdem versucht, zeigen die akademischen Blues-Aufnahmen, die Eric Clapton veröffentlicht hat: technisch beeindruckendes, aber blutleeres Kunstgewerbe. Clapton, noch immer einer der besten Gitarristen der Welt, war einst mit den Rolling Stones und seinen Yardbirds im legendären Crawdaddy Club aufgetreten. Für "Blue & Lonesome" hat er bei zwei Songs die Leadgitarre übernommen, hält sich dabei aber glücklicherweise zurück. Der fröhlichste unter den zwölf Songs des Albums heißt "I Gotta Go" und beginnt mit Jaggers frenetischer Mundharmonika und den Trübsinnszeilen "I ain’t seen my baby / And the evening sun is goin’ down". Nur eines hilft: Aufbruch. Die Band rumpelt übermütig. Aufhören ist für die Stones, so scheint es, keine Option. "Blue & Lonesome" erscheint am Freitag, 2. Dezember, bei Polydor Records.