Sterbehilfe: Denn er wusste Tag und Stunde
Er schwärmte von Frankreich und Pastis, von Lyrik und Liebe. Doch alt und krank, beschloss er zu sterben, selbstbestimmt. Er hat sich von allen verabschiedet. Seine Freunde sagen: „Es war kaum zu ertragen.“ Wieso wollte er nicht abwarten? Hätten sie ihn aufhalten müssen? Sind sie Mittäter geworden?
Es ist die Ankündigung seines Todes, und nicht die erste. Diesmal ist es ihm ernst. Er hat einen Termin gemacht, Versicherungen gekündigt und das Auto verkauft, das seine Frau nicht fahren mag. Er hat Brücken abgebrochen, sich in Zugzwang gebracht. „Im März könnt ihr mich noch erreichen“, sagt Arthur Seitz am Telefon. Er ist bereit.
Knochenkrebs haben die Ärzte bei dem Schweizer diagnostiziert und gemutmaßt, im Sommer werde der sich bemerkbar machen. Dass mit beträchtlichen Schmerzen zu rechnen sei. Mehr wollte er gar nicht hören. Mit 93 Jahren. Sein Entschluss stand ohnehin fest, lange bevor ihn die üblichen Altersbeschwerden zu plagen begonnen hatten, die Augen schlechter geworden waren und das Treppensteigen mühsamer. „Wachet, denn ihr wisset weder Tag noch Stunde“, heißt es in der Bibel, Matthäus 25, Vers 13.
Arthur Seitz ist nicht religiös. Er kennt Tag und Stunde, als er in seiner Zürcher Wohnung zum Hörer greift, um seine Freunde in Deutschland darüber zu informieren, dass er seinem Leben ein Ende setzen wird.
„Du hast so viel Glück gehabt“, sagt seine langjährige Freundin Carola Krohn am anderen Ende der Leitung in Hamburg. „Wieso kannst du nicht abwarten?“ Arthur sieht keinen Grund, abzuwarten. Nein, er will nicht noch einen Frühling mitnehmen und kein weiteres Weihnachtsfest. Er will in Würde sterben und vor allem: bis zuletzt Herr seiner Entscheidungen sein. Das Leben nicht länger leben, als es lebenswert ist.
Dass die Ansprüche daran, was er als „lebenswert“ erachtete, immer sehr hoch gewesen seien, werden Freunde später sagen, er habe immer aus dem Vollen geschöpft. Dass ihm Kleidung und Reisen wichtig waren und gutes Essen, dass er gern teure Weine trank und davon reichlich. Auch dass er sich bevorzugt mit jüngeren Menschen umgab, vor allem mit jüngeren Frauen.
Arthur Seitz hat früh geheiratet, überraschend bei dem Bohème-Leben, das er zu führen genoss. Seine Frau Greta blieb an seiner Seite, bis sie starb. Er hat etliche andere Frauen gehabt, kurze Affären, länger währende Verhältnisse. Arthur liebte die Liebe und die Frauen, er gab sich ihnen gern hin. Er war ein Romantiker, einer, der Gedichte schrieb über Hoffen und Bangen, Leben und Lieben. Und über den Tod. „Das Ende der Träume“ heißt eines, das er ausgewählt hat für seine Todesanzeige: „Bald sind / die Träume / von Rosen und Schmetterlingen, / von Meer und Sand, / von Hoffnung und Liebe / ausgeträumt.“
Carola Krohn und ihr Mann wissen seit Jahren, dass Arthur vorhat, selbstbestimmt zu sterben. Er hat sie über alles in Kenntnis gesetzt. Seinen Eintritt in die Schweizer Sterbehilfeorganisation „Exit“, immer neue Überlegungen zur Wahl von Zeit und Ort, Ideen, wie der Abschied zelebriert werden könnte. Häufig stieß Arthur damit auf Verständnislosigkeit. „Ich konnte es nicht mehr hören“, gibt ein Freund im Nachhinein zu. Dieses Kokettieren mit dem Tod, und das von einem Mann, dessen körperliche Leistungsfähigkeit nicht allzu eingeschränkt schien, ja der um seine geistige nur zu beneiden war – das sei schwer auszuhalten gewesen.
Ob und inwieweit ein Freitod ethisch und moralisch vertretbar ist, darüber liefern sich Politiker, Kirche und Ärzte hitzige Debatten. Juristisch ist die Situation eindeutig: Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt ist. Grundlage der Existenz von Sterbehilfeorganisationen wie „Exit“ und „Dignitas“ ist der Artikel 115 des Schweizer Strafgesetzbuches: „Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt wurde, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis bestraft.“ Das heißt im Umkehrschluss, dass Beihilfe zum Selbstmord erlaubt ist, sofern sie nicht eigennützig motiviert ist.
„Ich begreife es nicht“, sagt Carola Krohn. So geht es vielen Freunden. Kürzlich ist Arthur noch in Biarritz gewesen, an der französischen Atlantikküste. Hat auf Postkarten von Pastis geschwärmt und von kleinen Strandspaziergängen. Woher nimmt dieser Mann seinen Todeswillen? Arthur ist nicht darauf bedacht, Antworten zu geben. „Mir reicht’s einfach“, sagt er.
An die 180 Menschen begleitet „Exit“ im Durchschnitt pro Jahr in den Tod. Jeder vierte von ihnen leidet nicht an einer tödlichen Krankheit, erachtet das eigene Dasein aus anderen Gründen für freud- und sinnlos, unzumutbar.
Eine der Frauen, mit denen Arthur sich im Laufe seines Lebens verbunden hat, ist Beate. Die beiden lernten einander kennen, da war er Anfang 60 und sie 20. Beate werde ihn nicht begleiten, erzählt Arthur. Sondern Gerd, sein einziger Neffe, und Jörg, ein enger Freund, der mit seiner Familie in einem kleinen Ort an der Schweizer Grenze lebt. Sie sollen Arthur abholen und zur Geschäftsstelle von „Exit“ fahren. Eine Bedingung für die Freitodbegleitung ist die Anwesenheit mindestens einer dritten Person, im Idealfall eines Angehörigen.
Rund 50 000 Mitglieder zählt „Exit“ heute. Der jährliche Mitgliederbeitrag beträgt 45 Schweizer Franken, knapp 30 Euro. Eine lebenslange Mitgliedschaft kostet 900 Franken. Ab dreijähriger Mitgliedschaft ist der Tod gratis. „Exit“ definiert sich nicht als Dienstleister, der – quasi auf Knopfdruck – zum Tod verhilft, sondern als eine Organisation, die sich langfristig für bestimmte Ziele und Werte einsetzt. Sie ist daher bestrebt, Menschen an sich zu binden. Mitglied werden können alle Schweizer sowie Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz. Darin liegt der bedeutende Unterschied zur anderen großen, aus „Exit“ hervorgegangenen Sterbehilfeorganisation „Dignitas“, die auch Gesuche aus dem Ausland annimmt. International ist „Dignitas“, obwohl mit nur 6000 Mitgliedern vergleichsweise klein, darum weit mehr Menschen ein Begriff.
Arthur Seitz hat sich als Schweizer für „Exit“ entschieden. Weil „Exit“ in den Augen der meisten Eidgenossen die weniger profitorientierte Vereinigung ist, weil die ihm „vertrauenerweckender“ ist, „näher“. Nur drei Tramstationen sind es von seiner Wohnung am Albisrieder Platz zur Geschäftsstelle von „Exit“, zu deren Räumlichkeiten ein Sterbezimmer gehört. Die meisten Menschen wünschen, zu Hause zu sterben. Arthur wünscht das nicht, Beate auch nicht. Sie wird den Mann, den sie liebt, an jenem Tag auf der Straße verabschieden, wo Gerd bereitsteht, seinem Onkel ein letztes Mal die Autotür aufzuhalten.
Nach Arthurs Anruf fällt es dem Ehepaar Krohn schwer, sich wieder ihrer Arbeit und dem Alltag zuzuwenden. Ihr Wissen um das bevorstehende Ereignis ist belastend. „In gewisser Weise hat er uns zu Mittätern gemacht“, findet Herr Krohn. In Hamburg sitzen und das Tagwerk verrichten, während der Freund in Zürich auf den Tod hinlebt, das fühlt sich an wie unterlassene Hilfeleistung. Weiß Arthur Seitz das?
Kinder stellen sich manchmal ihre eigene Beerdigung vor. Malen sich aus, wie alle am Grab stehen und weinen, schmerzlich begreifend, was sie verloren haben. Die Eltern, die Freunde, Tanten und Vettern. Fast scheint es so, als habe auch Arthur Seitz es sich nicht nehmen lassen wollen, Gast auf seiner eigenen Trauerfeier zu sein. Er hat sich von allen verabschiedet, vor allem aber den anderen die Chance gegeben, sich zu verabschieden. Ihm Briefe zu schreiben, ihn zu besuchen, noch einmal gemeinsam Erlebtes in Erinnerung zu rufen und die Freundschaft zu beschwören.
Auch Carola Krohn schreibt einen Brief. Knapp drei Wochen hat ihr Schweizer Freund da noch zu leben. „Es ist, als hätte er eine Sanduhr auf meinem Schreibtisch umgedreht“, sagt die 52-jährige Übersetzerin. Während sie sich auf einen Text zu konzentrieren versucht, rieseln die Minuten, die Arthur Seitz bleiben, unwiederbringlich dahin. Zwei Wochen noch. Eine Woche. Irgendwann wird der Tag da sein. Ein Schauder läuft ihr über den Rücken, wenn sie daran denkt. „Zünde eine Kerze für mich an“, bittet Arthur, „um 16 Uhr.“ Und dann?
Zwölf Quadratmeter umfasst das Sterbezimmer. Das Bett ist niedrig und grün bezogen. An der Wand hängt ein Bild, das abstrakte Formen zeigt. Neben dem Bett gibt es einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Gestorben wird hier ausschließlich nach Feierabend und an den Wochenenden. Werktags läuft im Gebäude der „normale“ Verwaltungsbetrieb. „Der würde ja stören. Der Patient soll absolute Ruhe haben“, erklärt Heiner Bergauf, der mit Arthur Seitz’ Fall betraute „Exit“-Mitarbeiter.
Heiner Bergauf ist pensionierter Pfarrer und seit 13 Jahren ehrenamtlicher Freitodbegleiter. Das mag für paradox halten, wer bedenkt, wie vehement der Widerstand gegen Sterbehilfe bei den christlichen Kirchen ist. Selbsttötung, äußerte sich die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands sinngemäß, das sei ein Verstoß gegen die Natur, der Versuch, sich seiner menschlichen Verantwortung zu entziehen. Das Leben als Geschenk Gottes – ein Geschenk, das man nicht ablehnen darf?
Plötzlich wird die Sanduhr angehalten. Eine Woche vor dem angesetzten Todestag ruft Arthur Seitz noch einmal Carola Krohn an und teilt ihr mit, dass es Probleme mit dem Raum gebe. Man hätte den Termin in die Morgenstunden vorziehen oder um eine Woche verschieben müssen. Arthur Seitz lässt den Termin verschieben. „Ich will am letzten Tag meines Lebens nicht früh aufstehen“, sagt er.
Wie fühlt sie sich an, diese Woche? Eine Woche, in der er nicht mehr zu leben geplant hatte. Was zu erledigen war, hat er erledigt. Alle Anrufe getätigt, alle Dinge geordnet. Bestimmt, wer seinen Schreibtisch bekommt und wer die Ölgemälde.
Natrium-Pentobarbital heißt das Pulver, das einen garantiert schmerzfreien Tod ermöglicht. 15 Gramm, aufgelöst in Wasser, reichen aus, um den Sterbewilligen bereits kurz nach der Einnahme in ein tiefes Koma fallen zu lassen, aus dem er nicht mehr erwacht. Zehn bis zwanzig Minuten dauert es, bis die Atmung schließlich aussetzt.
„NaP“ schmecke scheußlich, sagt Bergauf in einer vorbereitenden Sitzung entschuldigend zu Seitz, freilich ohne es je gekostet zu haben. Jeder, der mit der Bitte um Freitodbegleitung an „Exit“ herantritt, wird bis ins letzte Detail über die Prozedur aufgeklärt. Weil jegliche Form des Selbstmordes amtlich als „außergewöhnlicher Tod“ verbucht wird, muss nach Feststellung des Todes die Polizei informiert werden, deren Aufgabe es ist, die näheren Umstände zu klären. Um Angehörigen unangenehme Fragen in diesen Momenten zu ersparen, zeichnet „Exit“ den Vorgang der Medikamenteinnahme auf Video auf, das Sterben an sich aber nicht. „Exit“ kümmert sich auch um den Abtransport der Leiche.
Arthur Seitz hat schriftlich festgehalten, dass er verbrannt werden möchte und keine Erdbestattung wünscht. Beate soll hier und dort etwas Asche verstreuen, wenn sie auf Reisen geht. Der Gedanke gefällt ihm.
Wer ein letztes Mal Shakespeare lesen, Schach spielen oder Tschaikowsky hören möchte, darf das in aller Ruhe tun. Seitz ist da bescheiden. Ein Gläschen Wein leeren zusammen, das wäre schön.
Ein elementarer Grundsatz in den Richtlinien der Organisation ist, dass der Sterbewillige sich das Gift selbst verabreichen muss. Wenn der Arzt das Rezept ausgestellt hat, holen „Exit“-Mitarbeiter das Natrium-Pentobarbital aus der Apotheke ab und lagern es, bis der Sterbewillige danach verlangt. Manchmal vergehen Jahre, bis ein Mensch sich zu diesem letzten Schritt entschließt. Die Tatsache, „grünes Licht bekommen“ zu haben, wie „Dignitas“ es in ihren Bestätigungsbriefen formuliert, den Tod als Option in der Hinterhand, ist für viele schon eine solche Erleichterung, dass es sich damit gut noch ein Weilchen leben lässt. Der Studie einer Münchner Fachhochschule vom August 2005 zufolge begnügen sich rund 70 Prozent aller Antragsteller damit, sich diesen Notausgang geöffnet zu haben: Sie fordern nie das Fläschchen ein, das ihnen zusteht.
Arthur Seitz gehört nicht zu dieser Mehrheit.
Heiner Bergauf wartet vor dem Gebäude in der Mühlezelgstraße und winkt. Jörg ist fürchterlich nervös. Fast wäre er zu spät gekommen, weil er den Verkehr unterschätzt und sich obendrein verfahren hat. Zu Hause hat er Arthur nicht mehr angetroffen. Gerd und er waren schon aufgebrochen. Bergauf weist dem Herbeieilenden den Weg. „Herr Seitz war beispiellos gefasst“, bemerkt der Pfarrer. „Eine ausgereifte Persönlichkeit.“
Die drei sitzen am Tisch und trinken den Wein. Arthur, sein Neffe und Jörg. Arthur spricht von einem erfüllten Leben. Irgendwann sagt er, er sei so weit. Die Runde erhebt sich. In Hamburg zündet Carola Krohn eine Kerze an.
Jörg nimmt die Kleider an sich und unterschreibt ein Papier, welches bestätigt, dass Arthur Seitz, geboren am 4. Januar 1916, wohnhaft in Zürich, am 4. April 2009 um 16.10 Uhr verstorben ist. Beate will niemanden sehen. Die Kleidertüte stellt Jörg vor die Tür.
Namen geändert. Der Text ist erschienen auf der Reportage-Seite.