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Keiner übernimmt die Verantwortung, keiner sagt Entschuldigung. Trauernde am Ort des Unglücks.
© imago

Duisburger Katastrophe: Den Tränen freien Lauf lassen

Zwischen Trauer und Wut: Wer am Samstag in der Menge war, der kommt zurück an den Ort des Schreckens – um das Geschehene zu verarbeiten.

Dies ist kein Nadelöhr, dies ist ein Schlund. Durch ein Nadelöhr kann man schauen, in diesem Maul ist alles schwarz. Beklemmung legt sich auf die Brust, jetzt, hier, am Abend, als etwa 1000 Menschen in dem Tunnel unterhalb der Gleisanlage des alten Duisburger Güterbahnhofs überwiegend stumm auf und ab gehen – flanieren ist ein viel zu entspanntes Wort für diesen Gang der Trauer und des Entsetzens.

Am Nachmittag des vergangenen Samstags waren es Hunderttausende, die in dieses dunkle Loch liefen. Sie liefen fröhlich, berauscht und in Vorfreude auf die Loveparade, die am Ende des Tunnels marschierte. Zu viele Menschen liefen in den dunklen Schlund. Der Schlund hatte keinen Ausgang. Der Aufprall der Massen auf den Propf war fürchterlich. Inzwischen hat er zwanzig Menschen das Leben gekostet.

Auch am Dienstag kommen viele zum Unglücksort in die Karl-Lehr-Straße im Stadtteil Hochfeld. Anteilnehmende Menschen, wie die Mitglieder der Bürgervereine „Zukunftsstadtteil“ und „Klüngelclub“, ältere Damen, die gewiss keinen Rave hören, die aber voll Trauer und Fürsorge am Montagabend ein Kondolenzbuch ausgelegt haben. Als sie es am Montag früh um zwei Uhr für diese Nacht schlossen, hatten sich etwa 1000 Duisburger eingetragen.

Und es kommen Betroffene vorbei, Augenzeugen, oder besser: Eingeschlossene, die dem Grauen nur mit viel Glück entkamen. Katja Roth hat ein Gesicht voller Sommersprossen und dunkle Ringe unter den Augen. Mit leerem Blick schaut sie auf den Gitterzaun, der noch immer die Rampe absperrt, die Rampe zwischen zwei Tunnelabschnitten, die hochführt auf das Gelände. Vor dem Gitter brennen hunderte Kerzen, Menschen haben Blumen niedergelegt. An den Zäunen sind Plakate befestigt. „Das war kein Unfall, das war Mord“, steht auf einer braunen Pappe, herausgerissen aus einem alten Karton. Ihr Mann reicht Katja Roth eine Kerze, sie hält sie schräg, um sie anzuzünden, geht dann vor zum Zaun, stellt die Kerze ab und hält noch einen Moment inne. „Nachdem es gestern Abend richtig schlimm wurde, habe ich gesagt, wir fahren noch mal her“, sagt ihr Mann. Im Kinderwagen kreischt der jüngste Sohn der Familie aus Kamp-Lintfort kurz auf. Sein Beißring ist heruntergefallen. Sein Vater bückt sich, um das Spielzeug aufzuheben, streichelt dem Einjährigen über den Kopf. „Wir haben vier Kinder“, sagt er. „Ich weiß nicht, wie ich das hingekriegt hätte ohne Katja.“

Am Samstag war Katja Roth gefangen am Fuß jener Betontreppe, deren Bild um die Welt ging und die längst zu einem Symbol geworden ist für die Ausweglosigkeit. Katja Roth ist 36 Jahre alt, mit ihrer Freundin wollte sie hier feiern. Doch dann ging es nicht mehr vor und nicht zurück. Die beiden Frauen sehen, wie vor ihnen Menschen in Ohnmacht fallen, von anderen die Treppe hinaufgezogen werden. „In diesem Moment war ich nur noch Mama“, sagt Katja Roth. „Ich habe nur an die Kinder gedacht.“

Die beiden Frauen kämpfen sich die Böschung hoch. Auf dem Gelände angekommen steht für sie fest: Sie müssen hier weg. Doch die Notausgänge sind versperrt. Am Zaun, der das Gelände zur A 59 abriegelt, bitten sie Polizisten, den Ausgang zu öffnen. Das ginge nicht, ist die Antwort. Man habe Anweisungen, die Wege geschlossen zu halten. Erst als ein Krankenwagen durchgelassen wird, gelangen die beiden Frauen mit etwa hundert anderen auf die Autobahn. „Dann sind wir noch stundenlang herumgeirrt, bis wir nach Hause gefunden haben.“ Katja Roth lehnt sich gegen ihren Mann. „Das hat Spuren hinterlassen“, sagt er. Als am Montag endlich die Tränen kamen, hat er vorgeschlagen, noch einmal hinzufahren, um mit der Sache abzuschließen.

Vielen, die hierherkommen, geht es so. Es lässt sie nicht los, das Erlebte. Es bleibt nicht bei Tränen, manche brechen seelisch regelrecht zusammen, müssen von Psychologen betreut werden, die bereitstehen. Am Dienstagabend wird es bei vielen so dramatisch, dass ein Container aufgestellt wird, in dem sie betreut werden können.

Das, was geschehen ist, wird lange nicht vergessen werden. „Ich weiß nicht, wie viele Jugendliche ich gestern Nacht in den Armen gehalten habe“, sagt eine der älteren Damen, die an der Mahnwache des Stadtteilvereins Hochfeld teilnimmt. Auch Helfer wie sie sind inzwischen erschöpft. Der Gedanke an die vergangene Nacht treibt ihr die Tränen in die Augen, sie schnäuzt sich, zündet einen Zigarillo an. „Hier in Hochfeld gibt es viele Bürger, die etwas bewegen wollen für ihre Stadt. Dass Duisburg jetzt auf diese Art überall bekannt wird, ist bitter.“

Und es wird langsam Wut. Wut auf die Verantwortlichkeit, die doch noch so ungeklärt ist. Im Tunnel werden die Fragen gestellt, immer wieder die gleichen Fragen. Wer hat dieses Sicherheitskonzept erarbeitet, wer hat die Schleusen vor dem Tunnel geöffnet, wer hat dieses offensichtlich viel zu kleine Gelände ausgewählt und für eine Veranstaltung genehmigt, deren Dimension bekannt war. Jeder hat seine Meinung, keiner weiß Konkretes, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Erste Wutausbrüche sind zu beobachten. Etwa, als zwei Jugendliche ein Plakat abreißen, auf dem die Klitschko-Brüder grinsend für die Fitnesskette werben, deren Betreiber auch für die Loveparade verantwortlich ist. Für Donnerstag ist ein Trauermarsch vor dem Rathaus angemeldet. Das Motto steht auf einer Pappe am Unglücksort: „Sauerland macht Duisburg zum Trauerland“. Adolf Sauerland ist der Oberbürgermeister der Stadt. Ein Christdemokrat. Man möchte ihn weghaben.

Aber so vieles ist noch ungeklärt. Eigentlich alles. Die zwei Polizisten, die am Unglücksort die Trauergemeinde beobachten, wissen auch nichts, zumindest geben sie das vor. Doch, doch, er sei auch am Samstag im Einsatz gewesen, „nein, nein, ich habe keine persönliche Meinung dazu.“ Die Menschen, die kommen und trauern, die haben persönliche Meinungen zu einer Veranstaltung, bei der offensichtlich nichts so war, wie es sein sollte.

Oberhalb des Tunnels, auf dem immer noch gesperrten eigentlichen Gelände der Loveparade, eingeklemmt zwischen der Autobahn und den Gleisanlagen, haben die Aufräumarbeiten begonnen. Es sind zögerliche Arbeiten. Ein paar wenige Arbeiter beladen ein paar wenige Müllautos. Nur die Dixiklos, ein paar Hundertschaften Dixiklos, die stehen fein säuberlich in Reih und Glied und harren ihrer Abholung. Nach Lage der Dinge, war dies das Einzige, was reibungslos funktionierte.

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