Stadt in der Steppe: Das steinerne Herz der Mongolei
Ulan Bator ist nicht die schönste Stadt, doch unser Autor lebt seit Jahren dort. Sein Glück war ein buddhistischer Lama – er enthüllte ihm Welten, die Fremden normalerweise verborgen bleiben.
Im August 2004 kam ich zum ersten Mal nach Ulan Bator. Von Russland aus nahm ich jenen wöchentlichen Zug der transsibirischen Eisenbahn, der in der mongolischen Hauptstadt endet. Meinen Waggon teilte ich mit einem bunten Querschnitt der mongolischen Gesellschaft. Niemand störte sich an den Kindern, die durch die Gänge wuselten, man behandelte sie mit einer Toleranz, die in Deutschland oder sogar Russland undenkbar wäre. Abends wurde bei einer Flasche Wodka im Chor und gar nicht schlecht gesungen. Nur an Schlaf war nicht zu denken, denn die Händler in meinem Abteil hatten jeden freien Platz mit billigen Kleidern aus China belegt, die sie bei den kurzen Aufenthalten lautstark verhökerten.
Dann aber, beim letzten russischen Halt vor der mongolischen Grenze, schob sich eine gravitätische Gestalt ins Abteil und stellte schlagartig Ruhe her. Es war ein großer, beleibter Lama in einer roten Robe, der sich auf Russisch als Enche vorstellte. Der Mönch war hochgebildet, außer Russisch sprach er Tibetisch und Chinesisch, was er sich selbst beigebracht hatte, um Pilger in die tibetische Hauptstadt Lhasa zu führen. Solche Reisen und das Wahrsagen sicherten ihm den Lebensunterhalt, da er keinem Kloster angehörte und kein Gehalt bezog. Er kehrte gerade von einer Pilgerreise zurück und lud mich herzlich ein, ihn in Ulan Bator zu besuchen.
Die mongolische Hauptstadt empfing uns mit einem jener sibirischen Tiefs, die sintflutartige Regenfälle und eisige Temperaturen mit sich bringen. Durch die vor Wasser halbblinden Scheiben sah man – wie überall in der Welt des untergegangenen Sozialismus – Industrieschrott, verrottete Gleise, die ins Nirgendwo führten, verlassene Fabrikgebäude. Ich hatte also einen denkbar schlechten ersten Eindruck von Ulan Bator, der mich zweifeln ließ, ob meine Entscheidung, mit meiner mongolischen Frau hierher überzusiedeln, richtig gewesen war. Die Stadt kam mir vor wie die Kulisse eines Films über die letzten Tage der Menschheit.
Das sollte sich erst ändern, nachdem ich einen Monat bei Verwandten in der Provinz verbracht hatte, in einer Jurte. Erst hier bekam ich einen Eindruck von diesem riesigen Steppenland, das viermal größer ist als Deutschland, aber weniger Einwohner hat als Berlin. Ein Land, in dem es im Sommer 40 Grad heiß und im Winter minus 50 Grad kalt wird, wo die Männer im Sommer von Jurte zu Jurte ziehen, um sich an gegorener Stutenmilch zu berauschen, dafür im Winter aber den ganzen Tag auf der Weide sind, um ihre Tiere vor Wölfen zu schützen. Wo Außenstehende leicht vermuten könnten, jede Familie ziehe nach Gusto hin und her, in Wahrheit aber ein ausgeklügeltes System mit je nach Jahreszeit und Tierbedarf wechselnden Weiden herrscht, das es den Kindern erlaubt, die Schule in zentral gelegenen Internaten zu besuchen. Wo ich eine Ärztin mit ihrem Kind auf dem Arm traf, die wie ihre Patienten in einer Jurte lebte und nicht weniger oft den Standort wechselte. Wo, kurz, alles anders ist als in irgendeinem Land, das ich bis dahin kannte.
Wer das Leben in der Steppe nie kennengelernt hat, kann Ulan Bator, diese erste und einzige Großstadt auf mongolischem Boden, nicht begreifen. Die Rüpelhaftigkeit der Neuankömmlinge, die zum ersten Mal in ihrem Leben dicht mit anderen Menschen zusammenleben müssen. Die aus der Steppe stammende Direktheit der Stadtbewohner, die von Ausländern oft als Unhöflichkeit missverstanden wird. Auch das scheinbare Chaos, dem in Wahrheit, wie auf dem Land, eine effektive Ordnung zu Grunde liegt.
Imposant und voller Leben
War die Stadt bei näherer Betrachtung viel interessanter, als ich sie mir vorgestellt hatte, so war sie auch keineswegs so hässlich, wie sie mir anfangs erschienen war. Ihr noch aus Sowjetzeiten stammendes steinernes Herz war großzügig geplant, die Wohnbezirke nach Regeln angelegt, die den deutschen Reformarchitekten der 20er Jahre sofort vertraut gewesen wären, und die eigentliche Innenstadt mit dem gewaltigen Suchbaatar-Platz, dem Operngebäude und dem Kulturpalast imposant und voller Leben.
Was diese knapp eine Million Einwohner zählende Stadt antrieb, woher sie kam, wohin sie strebte, das lernte ich von Enche, dem Lama. Er wohnte östlich des Zentrums in einem lädierten Plattenbau, nicht weit vom Bett des fast immer trockenen Flusses Selbe. Ihn zu finden war nicht einfach, denn Straßennamen sind in Ulan Bator unbekannt. Man hilft sich damit, irgendeinen markanten Ort in der Nähe zu benennen. Da ich mich nicht auskannte und obendrein kein Mongolisch sprach, war es mehr oder minder zielloses Herumirren, das mich schließlich zu seinem Haus führte. Vor der Wohnung im fünften Stock warteten Besucher auf ihre Audienz beim Lama. Ich wurde sofort eingelassen und kam in ein großes Zimmer, dessen Wände über und über mit Bücherregalen bedeckt waren. An der Stirnseite des Raums stand ein niedriger Altar, auf dem Räucherstäbchen brannten. Enche selbst saß hinter einem niedrigen Tisch auf einem Kissen und empfing seine Besucher mit der gleichen Gelassenheit, die mich schon im Zug beeindruckt hatte.
Hintereinander kamen ein altes Weiblein, das den Lama bat, für das Wohlergehen ihrer Kinder zu beten, dann ein ratsuchender Geschäftsmann, schließlich eine junge Frau, die – genauer verriet es mir Enche nicht – eine Beeinflussung ihres Schicksals erhoffte. Sie alle verließen den Lama, wie mir schien, zufrieden. Danach fand Enche Zeit, meine Fragen zur Stadt und zum Land zu beantworten – und sogar zur Zukunft. Er dachte in gewaltigen Zyklen, glaubte an eine Wiederholung des Immergleichen und war dank seiner Kenntnis der buddhistischen Schriften überzeugt, die Geheimnisse der Zeit lesen zu können. Ich schrieb mit, fasziniert von dem Gedanken, seine Prophezeiungen in ein paar Jahren überprüfen zu können.
Nicht alles, was er sagte, verstand ich bis ins Letzte – etwa seine Ausführungen zu den vier Bergen um Ulan Bator, deren wichtigster der heilige Bogd Uul ist, mehr als 2000 Meter hoch. An diesem Hüter der Stadt dürfe der Mensch weder jagen noch Holz schlagen noch sonst die Natur schädigen. Hier nun sagte Enche das baldige Ende eines Zyklus voraus, der mit der Gründung der Stadt als Kloster vor 300 Jahren begonnen hatte. Man sehe es am mangelnden Respekt, der die Reichen dazu verleite, sich an den Hängen des Bogd Uul mit Mauern umgebene Villen zu bauen, während die Armen die gewaltigen Zirbelkiefern auf dem Berg mit Holzhämmern bearbeiten, um die herabfallenden Nüsse aufzusammeln.
Die findigen Einwohner von Ulan Bator
Was für einen Westler wie mich nur Zeichen eines moralischen Niedergangs oder wachsenden Materialismus waren, das sah Enche als quasi naturgesetzlichen Ausdruck eines endenden Zyklus. Weiter sagte er Erdbeben voraus, Großbrände und Überschwemmungen, die alles hinwegfegen würden, was der Mensch in den letzten Jahrzehnten in Ulan Bator geschaffen hatte. Nur das auf einem Hügel gelegene Kloster Gandan werde bleiben.
Als ich neugierig nach meinem eigenen Schicksal fragte, winkte Enche ab. Das Wahrsagen für Privatpersonen war für ihn nur ein Broterwerb, mit dem er sich seine Leidenschaft finanzierte, den Erwerb und das Lesen immer neuer Bücher. Und für heute war sein Arbeitstag vorbei.
Es war nicht mein letzter Besuch bei Enche. Über die Jahre kam ich immer wieder, brachte Bücher zurück, die ich geliehen hatte, und holte neue ab. Er erzählte von seinen Reisen nach Indien, in die USA, nach Tibet, Russland und China. Einmal reisten wir gemeinsam nach Khamkhriin Khiid, ein Wüstenkloster, in dem manche den Eingang nach Schambala vermuten, das Paradies der tibetischen Buddhisten.
Währenddessen folgte Ulan Bator dem Weg, den der Lama prophezeit hatte. Zwar gab es kein Erdbeben, aber im Winter nahm die Luftverschmutzung durch all die neuen Autos und die Kohleöfen in den Jurten der Zuwanderer derartige Ausmaße an, dass der amerikanische Wetterdienst in seinen Meldungen nicht mehr von „Smog“, sondern lapidar von „Smoke“ sprach. Im Umland mochte hellster Sonnenschein sein, in Ulan Bator sah man keine hundert Meter weit. Was die kommende Sintflut anging, blieb die Stadt zwar verschont, aber ein wilder Bauboom, der die letzten freien Flächen versiegelte und sich nicht um Abflussmöglichkeiten scherte, hatte dazu geführt, dass jeder Platzregen lokale Überschwemmungen auslöste.
Was andererseits nichts an dem änderte, was die Stadt für mich bis heute ausmacht: die Lieder und Videos der unzähligen Musiker und Filmemacher, die mit den einfachsten Mitteln eine populäre, von niemandem geförderte Video- und Musikkultur schaffen, die sich längst gegen die Konkurrenz aus den USA durchgesetzt hat; die unzähligen Händler, Restaurantbesitzer und Fahrunternehmer, die sich mit immer neuen Ideen über Wasser halten; überhaupt die Vitalität einer jungen, kaum der Steppe entwachsenen Bevölkerung.
Das letzte Mal sah ich Enche, der bald darauf nach Indien ging, im November 2008, als man wirklich glauben konnte, die Apokalypse stehe bevor. Im September war Lehman Brothers zusammengebrochen, gleich darauf der Preis des Kupfers, des Hauptausfuhrprodukts der Mongolei, katastrophal gesunken und alles Kapital abgezogen worden. Schlagartig war der Bauboom zu Ende, kein Kran drehte sich mehr, und am größten Bau des Landes, dem Hochhaus am Suchbaatar-Platz, waren alle Arbeiten eingestellt worden. War das nun das Ende? Würde sich Ulan Bator wieder entleeren, würde sich die große Stadtflucht wiederholen, die Anfang der 90er Jahre der Zusammenbruch des Sozialismus ausgelöst hatte? Würden die Hunderttausenden, die in den letzten Jahren gekommen waren, in die Steppe zurückkehren, würde der Bogd Uul Frieden finden?
Doch Enche war überzeugt, dass der Zyklus seinen Umkehrpunkt noch nicht erreicht hatte. Die echten Katastrophen, in deren Folge er einen neuen Siegeszug des Buddhismus erwartete, den Zusammenbruch der Partei in China und die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet, sie standen noch bevor. Erst 2012 oder 2013 sollte es so weit sein. Bis dahin würde alles weitergehen, die Kräne würden sich wieder drehen, auch das höchste Gebäude der Stadt würde fertiggestellt werden.
Im September 2011 verließ ich Ulan Bator, um für längere Zeit nach Deutschland zurückzukehren. Die Kräne drehten sich tatsächlich wieder, das Hochhaus am Suchbaatar-Platz stand kurz vor der Eröffnung, die Stadt war weiter den Bogd Uul hinaufgekrochen. Dieser Teil von Enches Vorhersage ist also eingetroffen. Möglich, dass der Stadt eine echte Katastrophe nicht erspart bleibt. Allerdings – und hier weicht meine Auffassung von der des Lamas ab – bin ich überzeugt, dass die findigen Einwohner von Ulan Bator mit ihr fertig werden.
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