Thomas Pletzinger: „Da zeigt dir eine Oma den Mittelfinger“
Für sein Buch "Gentlemen, wir leben am Abgrund" hat der Schriftsteller Thomas Pletzinger ein ganzes Jahr lang hautnah die Basketball-Profis von Alba Berlin begleitet. Ein Gespräch über smarte Riesen, rohe Machosprüche und Kabinengeheimnisse.
Herr Pletzinger, als junger Kerl hatten Sie einen großen Traum: Sie wollten Profi im Basketball werden.
Ich bin in Hagen aufgewachsen, und dort waren Basketballspieler die großartigsten und berühmtesten Menschen, die ich kannte. Sie sprangen derart hoch, dass sie für Sekunden in der Luft schwebten. Sie sorgten dafür, dass die Zuschauer völlig die Fassung verloren, rumbrüllten, aggressiv wurden oder in Jubel ausbrachen.
Das hat Sie fasziniert?
Absolut. Und dann denkt man: Wäre das toll, wenn ich das wäre! Wenn ich so etwas könnte!
Sie haben dann selbst bei Brandt Hagen gespielt, auf ganz gutem Niveau.
Für die Bundesliga hat es bei Weitem nicht gereicht. Als ich 18 war, habe ich mein Trikot in den Schrank gelegt. Ich hätte ehrlicherweise früher erkennen können, dass das nichts werden würde.
Dafür hat der „Spiegel“ vor vier Jahren Ihr Romandebüt so gefeiert: „So mit edlen Dichterwassern gewaschen und auf die Spannungspauke dreschend, so breitbeinig und gerissen hat sich lange kein junger deutscher Schriftsteller ins Getümmel der Welt gestürzt.“ War das Applaus genug?
Das war gut, aber es ist eine völlig andere Art von Beifall als der Jubel einer hysterischen Sporthalle in einer ramponierten Stadt.
Nun haben Sie in der Saison 2010/2011 ein ganzes Jahr lang das Basketball-Team von Alba Berlin begleiten und hinter die Kulissen schauen dürfen. Stimmt Ihr Jugendtraum mit der Realität überein?
Ich habe gelernt: Profi sein ist harte physische Arbeit. Dieses Leben ist überraschend unspektakulär. Als Zuschauer nimmt man ja nur die Bühnensituation wahr, diese anderthalb euphorischen Stunden im Scheinwerferlicht. Im Alltag aber ist alles durchgetaktet. Es wird festgelegt, was die Spieler essen, wann sie aufstehen, welche Bewegungen sie immer wieder machen müssen. Sinnvolle Monotonie. Mein Kindertraum war wilder und bunter.
Es ist eben Arbeit, und zwar eine sehr gut bezahlte. Spitzenspieler in Deutschland verdienen bis zu 400 000 Euro im Jahr – netto!
Richtig. Doch habe ich dieses Leben gerne verklärt und für ungeheuer glamourös gehalten.
Sie hatten Glück und erlebten bei Alba die turbulenteste Saison der Vereinsgeschichte. Der Trainer wurde ausgetauscht, auch einige Spieler, es gab grausame Niederlagen. Und trotzdem stand nach 67 Spielen Ende Juni ein Finale in Bamberg an: Der Sieger würde Meister sein. Wie ist das, wenn sich ein ganzes Jahr auf zwei Stunden verdichtet?
Es war das Ende adrenalingeschwängerter Play- off-Wochen, für mich ging alles immer schneller und schneller und schneller, ich konnte das Ganze kaum noch einordnen. Wir fuhren immer wieder nach Oldenburg und zurück, nach Frankfurt und zurück, nach Bamberg und zurück, oft hätte eine Niederlage das Aus bedeutet. Und dann sitze ich da in dieser besonderen Bamberger Atmosphäre und denke nur: Eins noch! Gewinnt dieses Spiel! Ich will wissen, wie es ist, Meister zu sein. Der Lärm ist infernalisch, die Trommeln sind Kriegstrommeln. Die Bamberger betreiben ihr Fan-Sein mit großem Ernst. Da siehst du eine Oma mit Krücken und sie zeigt dir den Mittelfinger. Und das ist schön, eine völlig hochgeschraubte Intensität.
Und die Alba-Spieler?
Die waren in der Kabine schweigsamer als sonst, weniger Witze als sonst, konzentrierter als sonst. Völlig angespitzt auf ihr Ziel und klar, sehr klar. Ich dachte: So fühlt sich eine Einheit an.
Zwei Minuten vor Schluss führte Berlin, die Meisterschaft war nah, dann gewann Bamberg mit 72:65.
Es war fürchterlich. Man sieht etwas, was man nicht sehen will. Ein Bamberger wirft und die Halle explodiert, der nächste wirft und trifft wieder. Es ist ein widerliches, kaltes Gefühl. Du weißt: Egal, was ich jetzt tue, es hilft nichts, es hilft nichts… Ich erinnere mich noch, wie ich mein Notizbuch zuklappte.
In dieser aufgepeitschten Atmosphäre sollten Sie arbeiten, beobachten, schreiben.
Ich hatte meine Objektivität schon Wochen vorher über Bord geworfen, in den letzten Minuten habe ich nur zwei, drei Sachen notiert, aber eher als Übersprungshandlung. Es war magisches Denken. Der Versuch, das Spiel zu beeinflussen. Ich habe geschrieben: „Nicht zu früh freuen, nicht zu früh freuen!“, das hatte ich schon einmal gemacht und es hatte gewirkt. Auch dieses Ritual half nicht. Ich ging dann nach der Siegerehrung in die Kabine und dachte, da wird jetzt gezetert, geflucht. Doch da war nur Stille. Man konnte die Vibration eines Handys in einer Jackentasche hören.
Das war das Finale. Gab es während der Saison ähnlich dramatische Situationen?
Die Rückfahrt von Caserta kurz vor Weihnachten, wir hatten da im Eurocup gespielt, es gab den siebten Sieg in Folge. Mehr als 40 Stunden dauerte diese Reise! 40 Stunden ging schief, was nur schief gehen kann. Wir gaben auf dem Flughafen Neapel unser Gepäck auf, es war angenehm warm, jeder behielt nur leichte Kleidung für den Flug. Zwischenlandung in München, statt weiterzufliegen sahen wir Schnee und Räumfahrzeuge. Mit der S-Bahn zum Bahnhof, dort wehten weiße Flocken herein, alle froren, ein paar Spieler teilten sich eine Jacke, andere lehnten mit dem Rücken an einem Wurststand, um sich zu wärmen. Im T-Shirt im Schnee, das sind keine idealen Reisebedingungen. Dann hielt der Zug Richtung Berlin auf freier Strecke und es hieß, durch den Thüringer Wald kommen wir heute nicht mehr. Verwehungen. Also Ausstieg in Nürnberg, aber alle Hotels waren ausgebucht: Christkindlesmarkt. Wirren über Wirren. Einen Bus organisieren, auf schliddriger Straße nach Bamberg fahren. Zahnbürsten besorgen, übernachten, weiter mit dem Bus, sechs Stunden im Stau auf der Autobahn. Einige Spieler hatten sich erkältet, die Energie war raus, es folgten viele, viele Niederlagen.
Sie sind mit 1,94 Meter unter Basketballern schon einer der Kleineren. Mit so einer Gruppe von Riesen unterwegs zu sein, sorgt das ständig für Aufsehen?
Wenn das Team irgendwo aussteigt, schwarze Hemden, schwarze Trainingshosen, dann ist das für die Leute wie eine Freakshow, die denken: Der Zirkus kommt in die Stadt. Das ist in Moskau nicht anders als in Quakenbrück. Viele Menschen haben noch nie jemanden gesehen, der 2,15 Meter groß ist wie Patrick Femerling oder Miroslav Raduljica. Die kommen dann und wollen ein Foto machen, obwohl sie gar nicht wissen, wer dieser riesige Mensch eigentlich ist.
Das klingt verdammt anstrengend.
Es ist ja auch nicht nett, immer auf seine besondere Körperlichkeit angesprochen zu werden. Aber die langen Spieler sind da ganz souverän. Es ist die Variation des ständigen Größen-Dialogs: „Na, wie ist die Luft da oben?“
"Basketball-Sprache ist manchmal nationalistisch und sexistisch"
Profi-Basketball wirkt wie eine extreme Macho-Welt, voller Tätowierungen und großer Posen.
Vor 20 Jahren war Basketball in Deutschland noch eine Art Studentensport für Jungs mit Nickelbrille. Inzwischen gibt es mehr Machismo, Basketball hat Street-Credibility bekommen. Die Sprache ist roh und voller Superlative. Es wird geflucht, es wird manchmal sexistisch und nationalistisch. Trotzdem habe ich die meisten Spieler bei Alba als smart und klug erlebt, die haben bei aller Rohheit immer eine ironische Brechung in ihrem rauen Vokabular. Immer.
Geht’s genauer?
Da sagt etwa Heiko Schaffartzik zu Yassin Idbihi: „Fass mich nicht an, Marokkaner!“ Die beiden sind wirklich gut befreundet, beide sind deutsche Nationalspieler, beide sind zusammen nach Marokko gereist, glaube ich. Das ist ein bewusstes und komisches Spiel mit Klischees. Man muss sich nur mal die körperliche Präsenz dieser schweren, großen Männer vorstellen. Eine archaische Atmosphäre. Da würde keine feine Konversation hinpassen. In der Kabine sagt niemand: „Könntest du freundlicherweise den Flügelspieler früher irritieren?“ Es heißt eher: „Geh raus und reiß’ dem Bastard den Kopf ab!“ Der Trainer schreit: „If we lose this game, your ass is on fire!“ Doch das sind Menschen, die ansonsten tadellose Manieren haben.
Ist das Leben als Profi die Verlängerung der Jugend?
Patrick Femerling hat das Profileben mal als sehr, sehr lange Klassenfahrt bezeichnet. Man ist mit den Jungs zusammen, man spielt, man misst seine Kräfte, man albert herum. Ich denke, das macht für viele auch den Reiz am Profisport aus: länger jung sein zu dürfen. Ein Beispiel aus der Kabine: Jemand furzt. Alle krakeelen dann verzückt herum: Meine Augen brennen! Dieser schwer begeisterte Ekel, den man von Kindern kennt.
Ein Buch wie Ihres ist hierzulande eine Rarität, anderswo ist es normal, dass sich Schriftsteller intensiv mit Sport beschäftigen, etwa Norman Mailer und Javier Marías. Was hat Sie auf die Idee gebracht?
Basketball blieb Teil meines Lebens, seit ich Kind war. Wo immer ich konnte, habe ich „Westfälische Rundschau“ gelesen, um über meinen Heimatklub Hagen informiert zu sein. Im Internet schaue ich Videoclips von Spielen an, und gerne lese ich nackte Zahlen. Ich habe von 90 Prozent von Dirk Nowitzkis Spielen die Statistiken angesehen. 15 Monate Recherche und Schreiben – das ginge bei mir nicht ohne Passion.
Marcel Reich-Ranicki meint, „Sport und Literatur sind im Grunde feindliche Brüder“.
Es gibt sehr sehr gute Literatur über Sport. Wie David Foster Wallace über den Tennisstar Roger Federer geschrieben hat, ist grandios. Wallace setzt dem, was man als Zuschauer sieht, Beobachtungen und Überlegungen hinzu, die einem die Augen öffnen. Nehmen Sie seinen Text „String Theory“ über Michael Joyce, einen Spieler, der es nur bis kurz vor die Weltspitze schafft. Da habe ich begriffen, wie bitter dieses Geschäft ist, und wie wenig Anerkennung den Spielern bleibt, die nicht zu den Top-10 gehören. Die Realität des Männertennis im Vergleich zu dem, was wir im Fernsehen sehen, ist bei ihm wie der Schlachthof im Vergleich zum Steak auf dem Teller des Sterne-Restaurants. Wir sehen das Steak, und Wallace beschreibt den Schlachthof. Ein Wahnsinn.
Wie das Leben des Profis wird auch das des Schriftstellers verklärt: Alkohol, Zigaretten, nächtelanger Schreibrausch. Sie arbeiten mit anderen in einem „Literaturatelier“, links von Ihrem Schreibtisch hingen, ordentlich aufgereiht, monatelang Fotos fürs Basketballbuch, rechts an der Wand handschriftliche Zettel mit Notizen. Eine exzessfreie Zone.
Ich finde es gut, morgens klar und wach zu sein. Weggeblasen vom Musenkuss oder niedergeschmettert von der Schreibkrise – so möchte ich nicht leben. Ich hatte mir ein Pensum gesetzt, 1000 Worte am Tag, später 2000 Worte, was für mich aberwitzig viel ist. Die letzten zwei Wochen habe ich nur noch geschrieben und selten geschlafen. Irgendwann fiel mir auf: So wie Basketballspieler nur fünf Prozent ihrer Zeit angefeuert und bejubelt werden, so habe ich nur bei fünf Prozent des Schreibens tatsächliche Freude. Der Rest ist Disziplin und ausdauernde Arbeit.
Sie sind im Laufe der Zeit mit der Mannschaft vom „ich“ zum „wir“ gewechselt. Gab es dafür einen Moment, einen konkreten Anlass?
Das ging schleichend. Bei den ersten Spielen saß ich noch in der zehnten Reihe auf der VIP-Tribüne, dann Reihe 3 hinter den Spielerfrauen, dann ganz unten am Spielfeldrand. Und als der neue Trainer Muli Katzurin kam, habe ich mich einfach in die Kabine gesetzt und so getan, als sei das immer so gewesen.
Es dringt sonst so gut wie nichts nach außen, was in der Kabine besprochen wird. Wie sehr klaffen die Wirklichkeit der Mannschaft und das öffentliche Bild auseinander?
Bisweilen sehr. Da diskutieren Medien und Fans, warum ein Spieler nicht eingesetzt wird. Dabei haben die Trainer anhand von Videosequenzen genau analysiert, dass dieser Spieler ein Schwachpunkt ist. Aber das können sie natürlich nicht öffentlich sagen. Oder es wurde berichtet, Schaffartzik und der zweite Aufbauspieler seien sich spinnefeind. Aber die beiden alberten beim Training herum, von Eiseskälte war nichts zu spüren.
Der Assistenztrainer Konstantin Lwowsky galt als Meister der Videoanalyse. Sie schreiben, er habe Ihre „Sicht auf das Spiel komplett verändert“.
Er liest das Spiel viel klarer als man selbst, trotz aller Hektik und Emotion. Er ist wie ein Dirigent, der nach dem Konzert sagt: „Im fünften Takt des Adagios hat es ordentlich geklappert.“ Das hat sonst keiner gehört. Und bis die Mannschaft mit dem Bus zu Hause angekommen ist, hat er das komplette Spiel auf dem Laptop in einzelne Segmente zerlegt und verschlagwortet. Der Trainer sagt: Alle Schwächen von Spieler X beim Rebound – ein Knopfdruck, und alle können es auf dem Bildschirm sehen. In der Vorbereitung auf den nächsten Gegner bekommt jeder Spieler individuell auf ihn zugeschnitten eine DVD und seitenlange Papiere. Der eine lernt visuell, der andere mehr übers Lesen. Da stehen dann Sachen wie: Spieler Y dreht sich in 74 Prozent aller Fälle links herum, und wenn er sich doch nach rechts dreht, spielt er in 82 Prozent der Fälle einen Pass und wirft nicht selbst. Jeder Spieler, jedes taktische System wird seziert. Oder: Z hat ein dünnes Nervenkostüm. Also attackiere ihn körperlich, dann verliert er seine Konzentration. All diese Details!
Wird ein Spiel schöner, wenn man es besser versteht?
Der fundierte Blick fügt dem Spiel etliche Ebenen hinzu. Wie bei Musik oder Kunst. Aber ich sehe Basketballspiele auch sehr gerne emotional.
Welches war Ihr anrührendster Moment dieses Basketball-Jahres?
Eine flammende Rede von Derrick Allen in der Halbzeitpause gegen Sevilla im Februar. Nach vier Niederlagen kam das nächste schlechte Spiel, und dieser ansonsten ruhige Kerl stellt sich mitten in den Raum und findet unter Tränen überaus klare Worte: Ich bin nicht hier, um so katastrophal zu spielen, verdammt! Ich bin hierher gekommen, um zu gewinnen! Er hatte genug von Gerede und Floskeln. Es war ergreifend, überhaupt nicht peinlich.
Und die Reaktion?
Die anderen Spieler waren überrascht. Wenn ein erwachsener Mann plötzlich die Fassung verliert und emotional wird, ist das schockierend. Von da an ging es bergauf. Bis ins Finale. Ich weiß zwar nicht, ob der Erfolg in direkter Beziehung zu Derrick Allens Gefühlsausbruch stand, aber der Geschichtenerzähler in mir möchte es gerne so sehen. Und ja: Ich sehe es so.