Panorama: Blumen: Können Pflanzen sprechen?
Die Schlange reicht bis auf die Straße. Hat einer der Wartenden endlich die Ladentür passiert, schaut er sich suchend um.
Die Schlange reicht bis auf die Straße. Hat einer der Wartenden endlich die Ladentür passiert, schaut er sich suchend um. Weiße oder rote Rosen? Der Flieder sieht zwar herrlich aus, wirkt aber wohl zu schlicht. Vielleicht wären Nelken oder Orchideen das Richtige?
Getrieben von der Suche nach einem passenden Geschenk, stürmen Väter, Söhne und Töchter jedes Jahr am zweiten Maisonntag die Blumenläden. "Lasst Blumen sprechen", lautet die Devise, die dem Blumenhandel alljährlich traumhafte Umsatzzahlen am Muttertag beschert. Reichhaltige Angebote verwandeln allerdings den Wunsch, der Mutter einmal im Jahr "etwas durch die Blume zu sagen", zur quälenden Frage. Denn die seit dem 17. Jahrhundert in zahlreichen Wörterbüchern propagierte Blumensprache ist heute nicht mehr sehr lebendig. Die "Sprachkenntnisse" beschränken sich meist auf die dunkelrote Rose als Zeichen inniger Liebe oder selbsterklärende Blumensorten wie das Vergissmeinnicht - deutlicher kann die Sprache der Blumen nicht werden.
Seit Menschengedenken sind Blumen Zeichen dafür, etwas auszudrücken, das über bloße Worte hinausgeht. Wie archäologische Funde belegen, dienten Blumen schon dem Neandertaler als Grabbeigabe. Und aus dem alten Ägypten ist bekannt, dass Priester dem König einen Blumenstrauß unter die Nase hielten, um ihn zu ehren. Die Blumensprache mag dem Gelegenheitskäufer sehr verwirrend vorkommen, ihre Formen- und Farbensymbolik entsprechen jahrhundertealten Traditionen.
Erntefrisch aus Kenia
Heute steht hinter der ganzjährig angebotenen Blumenvielfalt ein bedeutender Wirtschaftszweig mit ausgeklügelter Logistik. Und die hat ihren Hauptumschlagplatz in Holland. "Bis eine geschnittene Blume beim Verbraucher landet, vergehen maximal zwei bis drei Tage", sagt Dieter Neumaier von der Versuchsanstalt für Gartenbau in Weihenstephan. "Eine Rose aus Kenia wird am Tag geschnitten, über Nacht mit dem Jet nach Amsterdam geflogen und am frühen Morgen an die Großhändler versteigert. Die beliefern dann meist noch am selben Tag die Blumenläden." Für den Verbraucher ist dieser aufwendige Transport immer noch günstiger, als die Blumen hier zu produzieren. Studien der Technischen Hochschule Zürich belegen, dass der Energieeinsatz pro Rose in Kenia deutlich geringer ist als in Europa. "In Kenia dient die Sonne als Energiespenderin für Heizung und Beleuchtung der Rosen, während es in Holland oder der Schweiz großer Mengen an nicht erneuerbaren Energien bedarf, um die Gewächshäuser zu heizen", schreibt Irene Lenggenhager am Institut für Pflanzenwissenschaften. Rund 20 Prozent der Schnittblumen auf dem deutschen Markt stammen aus nicht EU-Ländern.
Weltweit geben die Verbraucher im Jahr etwa 60 Milliarden Mark für Schnittblumen aus. Davon entfallen allein auf Deutschland 6,5 Milliarden Mark. "Das entspricht einer Menge von circa 300 000 Tonnen Blumen", schätzt Stephan Braun, Sprecher des Zentralverbandes Gartenbau in Bonn. Mehr als 70 Prozent der Gebinde, die über deutsche Ladentische wandern, werden als Geschenk gekauft; nur 27 Prozent erstehen die Käufer zum Eigenbedarf.
"An der Spitze der Beliebtheits- und Verkaufsskala steht immer noch die Rose", sagt Braun. "Rund 1,4 Milliarden Rosen werden pro Jahr in Deutschland verkauft." Sie hat in beinahe allen bekannten Kulturen einen hohen Symbolwert. Als Eva aus dem Paradies vertrieben wurde, bat sie um Erlaubnis, eine Blüte mitnehmen zu dürfen. Sie wählte die Rose. Der kleine Rosenstrauch errötete vor Scham und deshalb wurden die Rosen rot. Im Christentum entwickelte sie sich zur Rosa mystica, die heilige Blume als Sinnbild der Mutter Maria. Auch für die Mohammedaner hat die Rose besondere Bedeutung. Aus dem Schweiß von Mohammed, der bei seiner Auffahrt in den Himmel zu Boden tropfte, wuchsen Rosen.
Die dornigen Pflanzen symbolisieren nicht nur die Liebe, sondern auch das Geheimnis: Top secret - was im Zeichen der Rose gesagt wird, ist streng vertraulich. An Beichtstühlen sieht man geschnitzte Rosen und auch im Stuck über der bürgerlichen Tafel erinnert sie an diese Bedeutung. Die Rose verdankt sie vermutlich ihrem Blütenaufbau, denn sie versteckt ihre Staubgefäße und Stempel, also die Fortpflanzungsorgane, unter ihren Blütenblättern.
Meistens sind jedoch Legenden für die Bedeutung einer Blume verantwortlich. Das Vergissmeinnicht verdankt seinen Namen der Geschichte vom verliebten Ritter, der in voller Rüstung seiner Liebsten zum Abschied noch ein Sträußchen dieser blauen Blumen pflücken wollte, ins Wasser fiel und ertrank. Nur der Strauß Vergissmeinnicht schwamm noch auf dem Wasser und wurde für die Maid zum Zeichen unverbrüchlicher Treue über den Tod hinaus. Als Knospen sind die Blüten des Vergissmeinnicht oft zartrosa und werden erst später blau. Das ist auf einen Wechsel im Säuregrad des Zellsaftes zurückzuführen. In der Blumensprache könnte das als eine Entwicklung von zarter Verliebtheit zur festen Gewissheit der Liebe interpretiert werden.
Weniger eindeutig und ein Beispiel babylonischer Sprachverwirrung ist die Aussage der Narzisse: In der Antike gilt sie noch als Symbol des Schlafes, der christlichen Kirche als Marienattribut, den Buddhisten als Glückszeichen und den Mohammedanern als Sinnbild jener so seltenen Sorte Mensch mit aufrechtem Gang.
Die Sprache des Muttertagsgedichts spricht der Flieder, und auch das Maiglöckchen zählt zu den typischen Muttertagsblumen. Die kleinen weißen Blüten symbolisieren Glück, Zuneigung und Liebe. Flieder und Maiglöckchen sprechen aber auch noch eine andere Sprache: Sie verströmen einen unvergleichlichen Duft, der sich im Zimmer der Beschenkten breit macht. Nicht alle empfinden das allerdings als betörend, manch einer kriegt davon schlicht Kopfschmerzen. Schließlich ist die Duftsprache nicht für Menschen gedacht, sondern für Insekten - aus Fortpflanzungsgründen. Viele Blütenpflanzen sind auf eine gezielte Übertragung von Pollen durch Insekten angewiesen und müssen beispielsweise Bienen mit optischen oder chemischen Reizen anlocken. Insekten riechen mit ihren Antennen, die wie riesige Molekülsiebe Duftstoffe aus der Luft fischen. Sie können dabei Gerüche über mehrere Hundert Meter hinweg wahrnehmen. Landen die Duftmoleküle des Maiglöckchens auf den Riechsinneszellen einer Biene, verheißen sie ihr unmissverständlich eine köstliche Futterquelle.
Mitunter sprechen Blumen auch eine schicksalsschwere Sprache. Margeriten oder Gänseblümchen beispielsweise dienen häufig als Orakel. Während die Verliebte den weißen Blütenköpfchen der Reihe nach die Blätter auszupft, murmelt sie: "Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich...". Das letzte Blütenblättchen bringt schließlich Klarheit in die Beziehungsverhältnisse. Etwas aufwendiger, aber ebenso deutlich, beantwortet diese alte Anleitung alle Fragen in Sachen Liebe: "Fülle etwas Erde, auf der Dein Angebeteter seine Spuren hinterlassen hat, in einen Blumentopf und pflanze eine Ringelblume hinein. Wenn diese gedeiht und blüht, kannst Du Dir der Liebe dieses Mannes sicher sein. Kümmert sie aber dahin, so schlage Dir die Sache aus dem Kopf."
Symbolträchtig ist auch die Knopflochblume par excellence: die Nelke. Da ist die weiße Nelke am Revers des Dandys oder die traditionelle rote Blüte im Knopfloch der Sozialisten bei Maiaufmärschen. Die Blumenkinder der 60er Jahre steckten Nelken als Symbole des Friedens in die Gewehrläufe der Soldaten. Das Wort Nelke geht auf das mittelhochdeutsche "negelken" (Nägelchen) zurück. Dieser Name bezeichnete zunächst die Gewürznelken, deren getrocknete Blütenknospen an die Form kleiner Nägel erinnern. Später wurde der Name dann auch für die Gartennelke übernommen. Als "Nägelchen" kam die Nelke in die christliche Symbolik, wo sie die Nägel am Kreuz Christi darstellt und für göttliche Liebe, aber auch irdische Verführung steht.
Vielleicht ist es deshalb nicht verwunderlich, dass ausgerechnet die Nelke als eine der ersten Schnittblumen zum Arbeitsobjekt der Gentechniker wurde. Seit drei Jahren sind violette Nelken als gentechnisch veränderte Organismen für den europäischen Markt zugelassen; Antragsteller war die australische Firma Florigene mit Zweitsitz in Holland. Offenbar ließ die Furcht vor Akzeptanzproblemen bisher auf eine Markteinführung warten.
Doch die Pflanzengenetiker verändern nicht nur die Farbe von Blüten, sondern versuchen auch Anbau und Vertrieb der Schnittblumen zu erleichtern. An der Bundesforschungsanstalt für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen, gelang es den Wissenschaftlern bereits transgene Rosen herzustellen, die nicht so anfällig gegenüber Pilzinfektionen sind. Vorteil: Sie kommen mit einem geringeren Einsatz an Pflanzenschutzmitteln aus. "Bisher sind wir aber noch im experimentellen Stadium", sagt Thomas Debener vom Institut für Zierpflanzenzüchtung. "Neben der Pilzresistenz gibt es auch Bestrebungen, Blumen weniger anfällig für Stress zu machen, damit sie die langen Transportwege besser überstehen, und ihre Frosttoleranz zu erhöhen."
Zum Muttertag wird es teurer
Ebenfalls mit dem Nimbus von Gefahr und Abenteuerlust sind die Orchideen verbunden. Der Höhepunkt des Orchideenrausches lag in der Zeit von 1840 bis 1900. Pflanzenjäger setzten ihr Leben aufs Spiel, um seltene Exemplare nach Europa zu schaffen und den wachsenden Bedarf dieser exzentrischen Pflanze zu decken. Manche Orchideenarten waren durch die Sammelwut der Pflanzenjäger schon vom Aussterben bedroht. Im indischen Assam sah sich daher die Regierung um 1850 gezwungen, die Ausfuhr der blauen Orchidee zu verbieten. Diese Orchideenart war vermutlich die erste Pflanze, die per Gesetz geschützt wurde.
Auch heute noch bestimmen Angebot und Nachfrage den Wert von Blumen. Wenn an Tagen wie dem Muttertag der Bedarf an Schnittblumen steigt, klettern die Preise auf den Blumenmärkten in die Höhe. Würden Töchter und Söhne den obligatorischen Dank am zweiten Maisonntag verschieben und stattdessen öfter mit einer mütterlichen Überraschung aufwarten, könnten sie für das gleiche Geld bis zu dreimal im Jahr "Blumen sprechen lassen."
Manuela Röver
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