Schiiten in Najaf: Bis aufs Blut: Pilgerreise in den Irak
Am Ende fließen Tränen, selbst bei den Soldaten. Die Passionsspiele vereinen die Zuschauer in ihrem Schmerz. Millionen Schiiten pilgern zum Ashura-Fest nach Najaf. Es ist eine Wallfahrt zwischen heiligen Schreinen, archaischen Feuerspielen und Büßerritualen.
Bedrohlich dröhnen die Trommeln aus den Lautsprechern. „Der Tod ist besser als die Schande“, ruft der Reiter, reckt sein Schwert und stürzt sich auf seinem Schimmel in den letzten aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht. Erst trifft ihn ein Stein, dann ein Pfeil, am Ende durchbohrt ihn von hinten eine Lanze. „Im Namen Allahs, ich sterbe für den Glauben meines Großvaters, des Propheten Mohammed“, röchelt der tödlich Verwundete. Als ihm die Soldaten unter höhnischem Jubel den Kopf abschlagen, geht ein Aufschrei des Entsetzens durch die Zuschauermenge.
Frauen schluchzen, Männer vergraben den Kopf in ihren Händen, weinen still vor sich hin. Selbst den irakischen Soldaten, die eben noch breitbeinig und mit Sturmgewehr neben ihrem gepanzerten Jeep standen, rollen Tränen über die Wangen. Etwa 30 000 Menschen sind gekommen, um die Aufführung mitzuerleben. In diesem einen Augenblick verbinden sich die historische Tragödie, das Schauspiel und die eigene Lebenswelt in der Menge zu einem kollektiven seelischen Schmerz, der jetzt so viele überwältigt.
Die Helme sind aus Kochtöpfen gehämmert
Jedes Jahr zu Ashura, dem zehnten Tag des schiitischen Trauermonats Muharram, gedenken weltweit 200 Millionen Schiiten der Schlacht von Kerbala. Sie endete im Jahr 680 nach Christus mit dem Märtyrertod des Prophetenenkels Imam Hussein und besiegelte endgültig die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten. Seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein im Jahr 2003 dürfen die Gläubigen im Irak, dem Ursprungsland der Schiiten, wieder ihre Ashura-Passionsspiele aufführen.
Für Sayyed Mahdi al Mukarram und seine Schauspieltruppe ist es die achte Kerbala-Schlacht, die sie auf dem staubigen Freiluftgelände im Westen von Najaf inszenieren. Zwei Monate lang hat die Spielleitung aus 10 000 Bewerbern die 300 Kämpfer für die Armee des Omajjaden-Kalifen Yazid ausgewählt, 71 verkörpern die Gefolgsleute des Prophetenenkels Imam Hussein. Ihre Kampfhelme sind aus Kochtöpfen gehämmert, Speere aus Kupferrohren gebastelt und die falschen Palmen aus altem Holz gezimmert. Die Schauspieler haben ihre Pferde selbst trainiert und Wasser herangeschafft für ein künstliches Stück Euphrat.
Cheforganisator al Mukarram hat lediglich die Volksschule besucht und arbeitet den Rest des Jahres als Pförtner im Regionaldepartment des Agrarministeriums. Aber das Drehbuch hat der 48-Jährige selbst geschrieben. Andere kümmerten sich um die Kostüme, die Fahnen, die Lautsprecheranlage sowie um die Beduinenzelte, die nach dem Tod des Heiligen in Flammen aufgehen. Etwa 40 Leute gehören zum Team, sie haben Spenden gesammelt und oft ihren Jahresurlaub für die Vorbereitungen des fünfstündigen Trauerspektakels geopfert.
Seit vier Jahren verkörpert Hadi Bader Aragji die Heldenfigur des Imam Hussein, der als Stifter der schiitischen Glaubensrichtung gilt. Er sei durch die Schauspielerei zu einem besseren Menschen geworden, sagt der 41-Jährige, der für seine Rolle erst einmal das Reiten lernen musste. „Imam Hussein zu spielen, das ist wie eine Barriere gegen schlechtes Benehmen, was ich früher an mir hatte“, sagt er. Er sei im Alltag klarer, ehrlicher und zielstrebiger geworden – weniger aufbrausend zu Kollegen, einfühlsamer zu Frau und Kindern.
Die Angst vor Terror ist allgegenwärtig
Das Zentrum Najafs ist schon eine Woche vor Ashura kaum wiederzuerkennen. Sicherheitskräfte riegeln die Innenstadt aus Angst vor Terroranschlägen komplett ab und sperren sie für den Autoverkehr. Wer das Imam-Ali-Mausoleum mit seinen goldenen Minaretten und der prächtigen Kuppel besuchen will, muss eine spezielle Genehmigung vorweisen. Auf den Dächern sind Scharfschützen postiert, an den Ausfallstraßen stehen Militärfahrzeuge. Die Pilger müssen lange Fußwege zu ihren Hotels in Kauf nehmen, Helfer schieben ihre Koffer auf kleinen Karren rumpelnd hinter ihnen her.
Die Schiiten leben gefährlich. 50 Pilger starben auch in diesem Jahr durch Bomben, 34 allein in der Provinz Diyala, wo sich ein Attentäter als Polizist verkleidete, unter die Betenden mischte und sich in die Luft sprengte. Die gnadenlosen Attentate von Al Qaida haben seit Anfang des Jahres fast 6000 Menschen das Leben gekostet. Die Schiiten erleben den Terror als ein weiteres Kapitel ihrer jahrhundertealten Leidensgeschichte als islamische Minderheit, die mit dem Mord durch den sunnitischen Kalifen Yazid an ihrem ersten Heiligen Imam Hussein vor 1333 Jahren in der Schlacht von Kerbala begann.
Najaf gilt als das geistliche Zentrum
„Ich muss sehr vorsichtig sein“, sagt Großajatollah Bashir al Najafi, eine zierliche Person mit weißem Bart, schwarzer Hornbrille und übergroßem Turban, der seine Gäste in einem mit schwarzem Tuch verhängten, fensterlosen Raum auf dem Boden sitzend empfängt. „Ich habe meinen Teil gehabt an Gefängnis, Folter und Bombenanschlägen.“ Der Geistliche hat Najaf in den vergangenen 50 Jahren nur einmal für den Hadsch nach Mekka verlassen. Nach dem Sturz des Schiitenunterdrückers Saddam Hussein trachtet nun Al Qaida ihm und seinen schiitischen Glaubensbrüdern nach dem Leben. Die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten vor seinem bescheidenen und verwohnten Altstadthaus zeigen, wie ernst die Gefahr für den 69-jährigen Theologen zu nehmen ist.
Najaf gilt als das geistliche Zentrum, die Stadt ist gewissermaßen der Vatikan der Schiiten – und neben Kerbala auch die größte Pilgerstätte der islamischen Minderheit. Vier der weltweit zwanzig Großajatollahs residieren dort, darunter Bashir al Najafi, der die meisten Anhänger in Pakistan hat. Von 1964 bis 1978 suchte Ajatollah Chomeini in Najaf Unterschlupf vor dem persischen Schah. Seit der neue Flughafen 2007 eröffnet worden ist, reisen jedes Jahr mehr Pilger an. Im Jahr 2012 waren es bereits 13 Millionen. Allein in den zwei Wochen vor dem Ashura-Tag kamen vier Millionen Gläubige, die tagsüber im Mausoleum von Imam Ali, dem Vater des getöteten Hussein, beten.
Die Stadt lebt vom Pilgertourismus
Nachts strömen die Menschen in der Altstadt zusammen, um die archaischen Feuerspektakel und Trommelrituale zu bestaunen. 65 einheimische Familienclans beteiligten sich an dem gefährlichen Flammenzauber, bei dem ein bis zu 100 Kilo schwerer Feuerbalken minutenlang im Kreis herumschleudert wird. 35 ölgetränkte Pechfackeln sitzen auf dem fünf Meter langen Ungetüm, das ein einziger Mann durch die Gegend wuchtet. Immer wieder weicht die Menge kreischend zurück, um nicht von den Feuertöpfen am Kopf getroffen zu werden.
Einer der bärenstarken Artisten ist Hussein Mahdi, 29 Jahre alt, von Beruf Eisenbieger. „Ich brauche dafür kein Training“, sagt er und grinst unter seinem breitem Schnurrbart. Die besten unter den Muskelmännern würden zwanzig Umdrehungen schaffen, sagt der Mann mit der ölverschmierten Glatze. „Wenn der Träger ins Straucheln kommt, der Balken herunterfällt, gibt es viele Verletzte.“ Doch das sei bisher noch nie passiert. Die Najafer Theologen können dem derben Feuerritual nur wenig abgewinnen. Mit Religion habe das alles nicht zu tun, sagt einer von ihnen abschätzig. Aber das Spektakel sei beliebt und halte die Besucher bei Laune.
Denn die Stadt lebt vom Pilgertourismus. Außer einer Zement- und einer Textilfabrik gibt es keinerlei Industrie. Wie im übrigen Irak gibt es zu wenig Krankenhäuser, Wohnungen, Schulen und Kläranlagen, von einer zuverlässigen Stromversorgung ganz zu schweigen.
Das Heiligtum wird um Vierfache erweitert
„Ohne den Imam-Ali-Schrein wäre Najaf ein Nichts, ein unbedeutender Flecken in der Wüste“, sagt Zuhair Sharba, Vizedirektor des Heiligtums. 3000 Angestellte arbeiten in dem Imam-Ali-Komplex, der der größte Arbeitgeber in der 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt ist. Zahlen über die jährlichen Spenden und das Budget verrät der gelernte Ingenieur nicht, nur so viel: Der geplante gigantische Anbau mit rund 300 000 Quadratmeter Nutzfläche für Gebet, religiöse Unterweisung und Pilgerseelsorge, der das Heiligtum um das Vierfache erweitern soll, kostet 600 Millionen Dollar – und ist bereits aus den laufenden Spenden finanziert. „Wir verfügen über ein nach oben offenes Budget“, erklärt der 65-Jährige gut gelaunt. Die Firmen kommen aus Iran, Irak und Pakistan. In drei Jahren soll der Komplex eröffnen. Sein Betonskelett ist schon weitgehend fertig, in der 30 Meter tiefen Baugrube kreisen Lastwagen wie Spielzeugautos.
Sharba bestreitet, dass Najaf mit dem Megaprojekt in offene Konkurrenz zur Pilgermetropole Mekka treten wolle. Die Geistlichen verhehlen aber auch nicht ihre Wut über Saudi-Arabien und seine puritanisch-wahabitischen Prediger, die die Schiiten als Häretiker verunglimpfen. Die religiösen Hymnen und Trance-Rituale verdammen viele in Najaf als heidnische Gotteslästerung.
Am frühen Morgen des Ashura-Tages ist das metallische Wetzen der Klingen bis in die noch dunklen Gassen der Altstadt zu hören. In der kleinen Sayyed-Hashim-Moschee drängen sich Dutzende Männer. Mit schnellem Griff wickelt Hadsch Hannadi Haddad weißes Baumwolltuch von einer Rolle. Jeder bekommt zwei Meter, alle paar Sekunden schlitzt ein Helfer den Stoff in Stücke. „Imam Hussein hat sein Leben für unsere Religion hingegeben. Er hat für unsere Schuld gebüßt. Mit unserem Blut wollen wir ihm sein Opfer zurückzahlen“, sagt der 61 Jahre alte Mann, Vorsteher einer frommen Gilde, die sich der Armenfürsorge verschrieben hat. Auf einem Tisch an der Moscheewand stapeln sich die frisch geschärften Dolche. Die Teppiche sind übersät von aufgerissenen Plastiktüten, Brotstücken und Apfelsinenschalen, die Reste eines hastigen Frühstücks vor Sonnenaufgang.
„Ya Hussein, ya Hussein“, ertönt es draußen im Hof, wo sich die Männer, alte, junge und ganz junge, versammelt haben. Mit Säbeln ritzen sich die Gläubigen in ihre eigenen Schädel, das Blut rinnt über die Gesichter und Nacken auf die blütenweißen Büßerhemden. Die Männer zucken, stampfen und recken ihre besudelten Dolche in die himmlische Morgenröte. Manche tanzen sich in eine wilde Ekstase hinein, schlagen sich mit den Fäusten auf die Brust.
Dagham Ali hat seinen eigenen Säbel mitgebracht, den er erst vor vier Wochen für umgerechnet 40 Euro auf dem Markt gekauft hat. Stolz hält der 16-Jährige die Klinge mit dem schwarzen Ledergriff in seinen beiden blutverschmierten Händen. Nein, Schmerzen spüre er nicht, sagt er. In vier bis fünf Tagen seien die Schnitte am Kopf wieder verheilt. „Ich fühle mich glücklich, gereinigt und wie neugeboren.“