Neue EU-Richtlinie zur Lebensmittelkennzeichnung: Besser einkaufen
Sie hat das Gesetz für die europaweite Kennzeichnung von Lebensmitteln auf den Weg gebracht – eine Shoppingtour mit der EU-Abgeordneten Renate Sommer.
So ein Edeka ist eigentlich nicht der Ort für einen Einkaufsbummel. Nur gucken, nichts kaufen – das ist doch mehr etwas für andere Geschäfte. Renate Sommer aber schlendert durch die Gänge, bleibt stehen, nimmt ein Glas Nutella, studiert den Aufdruck und stellt es wieder hin. Am Kühlregal liest sie ausführlich die Verpackung der Wurst in Bärenform, schlägt aber nicht zu. Die 56-Jährige ist an diesem Tag so etwas wie eine Lebensmittelverpackungskontrolleurin. Sie schaut, ob die Kunden das über die Produkte erfahren, was sie laut Gesetz erfahren sollen.
Herne. Mitten im Pott. Auf dem Geländer der Grube Mont-Cenis ist die neue Mitte des Stadtteils Sodingen entstanden mit Seniorenwohnungen überm Supermarkt. Jetzt wird Kohle ausgegeben statt ausgehoben. Nur wofür, ist nicht immer so klar. Mit den Kumpeln ist auch die Zeit verschwunden, als noch jeder wusste, woher das Essen auf dem Teller stammt. Die Nahrungsmittelindustrie hat das geändert. Und der Edeka heißt schon lang nicht mehr Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler.
Wo man doch ist, was man isst, sollen die Menschen wieder wissen, was sie essen. Das jedenfalls ist die Idee hinter der Lebensmittelinformations-Verordnung, welche die EU schon Ende Oktober 2011 beschlossen hat. Nach einer langen Übergangsfrist, die den Herstellern die Umstellung erleichtern sollte, tritt sie nun an diesem Samstag europaweit in Kraft und löst alle nationalen Gesetze in diesem Bereich wie etwa in Deutschland die Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung ab.
Aus der Ampel wurde nichts
Renate Sommers prüfender Blick richtet sich zuerst auf eine Packung Golden Toast. Alles wunderbar. Die ausführliche Nährwerttabelle, die in einer zweiten Stufe erst in zwei Jahren verpflichtend wird, ist schon drauf. Kalorien, Kohlenhydrate, der Zucker extra ausgewiesen. Und was ist mit den neuen Hinweisen für Allergiker? In der Zutatenliste sind Weizenmehl, Sojamehl und Butter fett gedruckt. „In der Praxis wirken die Neuerungen fast ein wenig banal“, sagt die Politikerin, „aber es war sehr viel Arbeit und unglaublich schwer, all diese neuen Kennzeichnungspflichten durchzusetzen.“
Lobbyisten aller Couleur sind im Brüsseler Büro der Frau aus Herne zu Gast gewesen. Sie war die sogenannte Berichterstatterin des Europaparlaments für das neue Gesetz, hat in der Volksvertretung für diesen und jenen Änderungsantrag Mehrheiten organisiert und am Ende mit der EU-Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten einen Gesamtkompromiss ausgelotet.
Es wurde hart um prägnantere Warnhinweise gekämpft. Verbraucherverbände forderten sogar die „Lebensmittel-Ampel“. In den Farben Rot, Gelb und Grün wäre auf der Vorderseite einer Verpackung ersichtlich gewesen, ob das Produkt ernährungstechnisch bedenklich oder unbedenklich ist. Die Nestlés, Unilevers und Krafts waren genauso dagegen wie viele Regierungen – und Renate Sommer. „Die Ampel mit ihren willkürlichen Schwellenwerten ist wissenschaftlich nicht fundiert und kann zu Mangelernährung führen“, sagt sie. In der Folge musste sich die Chefverhandlerin harsche Kritik anhören. Grüne monierten, sie habe sich vor den Karren der europäischen Lebensmittelindustrie spannen lassen.
Nun gibt es nicht die Ampel, sondern detaillierte Nährwertangaben und eine Kalorienangabe im Kasten vorn auf der Verpackung. Die ersten Stichproben im Edeka von Herne-Sodingen zeigen, dass die Hersteller die neuen Anforderungen rechtzeitig zum Stichtag an diesem Samstag umgesetzt haben. Einen Fortschritt für den Kunden bringt die Verordnung allemal, auch ohne Ampel: „Wer will, kann jetzt vergleichen. Ich hoffe, das Gesetz bringt die Verbraucher dazu, die Produkte genauer anzuschauen.“
30 Prozent Zucker im Ketchup
Sie schnappt sich zwei Joghurts aus dem Kühlregal. Einen fettarmen und einen sahnigen, der eine groß, der andere klein. Die Bezugsgröße für alle Nährwertangaben beträgt jetzt 100 Gramm oder Milliliter, irreführende Portionsangaben sind verboten. Auch der berühmte „Tagesbedarf“ von diesem und jenem darf nicht mehr kreativ ausgelegt werden, sondern muss sich nun stets auf eine tägliche Energiezufuhr von 2000 Kalorien beziehen. So erfährt der Kunde, dass mit nur einem fertig verpackten Kassler mit Kraut schon 95 Prozent der am Tag benötigten Salzmenge aufgenommen wird. Und dass das Curryketchup im nächsten Regal tatsächlich zu 29,4 Prozent aus Zucker besteht, überrascht dann selbst die studierte Agrarwissenschaftlerin Sommer: „Nun kann sich keiner mehr herausreden, er hätte davon nichts gewusst.“
Schließlich findet Renate Sommer im Supermarkt doch ein schwarzes Schaf. Auf der Nuss-Nougat-Creme aus der Tube, Marke Nussini, fehlt der Hinweis für Allergiker. „Die Haselnüsse müssten fett gedruckt sein“, stellt die Brüsseler Lebensmittelinspekteurin enttäuscht fest: „In den paar Tagen bis zum Inkrafttreten des Gesetzes werden die das nicht mehr schaffen. Dabei haben wir den Unternehmen extra eine lange Übergangsfrist gelassen, um ihre Waren im Labor zu analysieren und neue Verpackungen zu entwerfen.“
Gekauft hat Renate Sommer an diesem Vormittag in ihrem heimischen Edeka nichts, gelernt schon. Zum Beispiel über färbende Lebensmittel, eine Branche, die einst einen eigenen Verbandsvertreter zu ihr nach Brüssel schickte. „Ich kannte das gar nicht“, gesteht sie, als sie bei den Joghurten fündig geworden ist. „Karottensaft im Joghurt, das steht jetzt da.“