zum Hauptinhalt
Zu Fuß gehen brauchen die Amischen nicht mehr. Für Traktoren gelten strengere Regeln. Keine Gummireifen, damit niemand auf der Straße fährt und das Pferd nicht einspannt.
© dpa

Zu Besuch bei den Amischen in Nordamerika: Beharren im Offline

Eigentlich leben sie wie vor 300 Jahren. Eigentlich sind technische Hilfsmittel verboten. Und eigentlich hat die Welt draußen zu bleiben. Aber nun stoßen die Amischen aufs Internet.

Wie groß die Familie ist, sieht man an der Wäscheleine. An die 50 Meter ist sie lang, führt vom Wohnhaus bis zum Stall. Die Kleidungsstücke hängen akkurat sortiert, erst Kleider, Schürzen und Hauben für die Frauen, dann Hemden und Hosen für die Männer, zuletzt alles noch einmal im Miniaturformat für die Kinder. Ordentlich ist die Familie also auch. Als Sam Stoltzfus im Einspänner vorfährt, trägt er genau die Kluft, dazu Vollbart und einen Strohhut. Er führt sein Pferd in den Stall, wieder draußen wird er umringt von einer Horde Kinder, und wie sie so da stehen, unter dem Walnussbaum, zwischen Feldern, jedes Mädchen mit einem Schürzchen, jeder Junge mit Hosenträgern, in der Mitte der Patriarch, wirken sie wie Statisten eines Films, der in einer längst vergangenen Zeit spielt.

Damals waren die Amischen die Revoluzzer unter den Christen

Sam Stoltzfus, seine Frau Katie, ihre neun Kinder und 44 Enkelkinder gehören zu den Amischen in Nordamerika. Ihre Vorfahren kamen vor rund 300 Jahren aus Deutschland und der Schweiz. Damals waren die Amischen, benannt nach ihrem Gründer Jakob Ammann, die Revoluzzer unter den Christen. Sie lehnten Kriege und Waffen ab, wollten den Staat aus der Kirche heraushalten und waren gegen die Taufe direkt nach der Geburt. Lieber sollten sich Erwachsene bewusst für Gott entscheiden. Weil sie in ihrer Heimat verfolgt wurden, beschlossen einige Amische, nach Pennsylvania zu gehen, dort sollte, so hatte es William Penn versprochen, Religionsfreiheit herrschen. Unter den Einwanderern war ein Pfälzer, der Nicholas Stoltzfus hieß. Er gilt als Urvater der Religionsgemeinschaft, seinen Nachnamen tragen etliche der 250.000 Amischen, die in 28 Bundesstaaten der USA leben, noch heute. Auch sonst wollen sie so sein wie ihr Ahn: In ihren Häusern gibt es keinen Strom, mit ihren Pferdekutschen blockieren sie den Verkehr, und ihre Felder beackern sie am liebsten mit der Hand. Doch am alten Leben festzuhalten ist schwieriger denn je. Die moderne Technologie, vor allem das Internet, stellen die Amischen vor die bislang größte Herausforderung. Wie können sie die Welt aussperren, wenn das weltweite Netz fast alle Menschen umspannt – das ist die Frage, die sich den Amischen stellt.

Mit Sam Stoltzfus in Kontakt zu treten, ist gar nicht so leicht. Ruft man seine Nummer an, springt nur ein Anrufbeantworter an. Auf seiner Farm könne man Meerrettich kaufen, auch Geräteschuppen stelle er her, sagt er da mit dröhnender Stimme, im Übrigen danke er allen Kunden, sie seien ein wahrer Segen. Persönlich erreicht man ihn nur, wenn man bei ihm vorbeifährt. Sobald er seine Enkel begrüßt und diejenigen ermahnt hat, die seiner Meinung nach liederlich aussehen, geht er ins Haus und lässt sich in den Schaukelstuhl fallen. „Wir fangen mal ganz unten an“, sagt er auf die Frage, wie er mit Nicholas Stoltzfus verwandt ist, und dann zählt er mit hoher Geschwindigkeit seine männlichen Vorfahren auf. Nicholas, Christian, Christian, Samuel, Samuel, Gideon und er, Sam. „Siebte Generation Stoltzfus also“, sagt er.

Keine Geräte - um keine Zeit zu haben, auf dumme Gedanken zu kommen

Seine Frau Katie und der Sohn Isaac stehen am Herd. Schweigend arbeiten sie nebeneinander her, gerade pürieren sie Birnen, man kann nur ihre Umrisse sehen, so dunkel ist es in der Küche. Dass man in diesem Haus nicht einfach auf einen Lichtschalter drücken kann, ist eine der wichtigsten Grundlagen der amischen Lebensweise. Eine elektrische Leitung wäre eine Verbindung zu dem, was Sam Stoltzfus als „die Welt da draußen“ bezeichnet, und so etwas wollen die Amischen unter keinen Umständen. Deswegen sind sie noch keine okkulten Spinner, im Gegenteil. Weil sie äußerst praktisch veranlagt sind, haben sie beschlossen, alle Versuchungen auszuschalten, um sich ganz auf das zu konzentrieren, was sie als ihre Aufgabe sehen – und das ist arbeiten, am besten auf dem Feld, und beten. Alle strombetriebenen Geräte würden diesen Lebensentwurf bedrohen. Selbst harmlose Geräte wie Staubsauger und Wäschetrockner könnten schaden, weil sie die Arbeit erleichtern und den Menschen Zeit geben würden, auf dumme Gedanken zu kommen. Die Annehmlichkeiten im Hause Stoltzfus beschränken sich deshalb auf wenige Gegenstände wie einen batteriebetriebenen Kühlschrank, eine Waschmaschine mit Dieselmotor und eine batteriebetriebene Lampe für die Abende. Und jetzt erklärt sich auch, warum bei Sam Stolzfus immer nur der Anrufbeantworter angeht: Damit es möglichst unbequem ist, Verbindung mit der Außenwelt aufzunehmen, ist das Telefon außerhalb des Hauses untergebracht.

Überhaupt ist die Sache mit dem Telefon knifflig. Eigentlich lehnen die Amischen es ab, aber manchmal brauchen sie es. Hier zeigt sich wieder ihr Sinn fürs Praktische. Für ihr wirtschaftliches Überleben brauchen sie all die Amerikaner, die in Städten leben und sich, zumindest in der Theorie und fürs Frühstücksbrot, für die einfache Lebensweise begeistern. Selbst in New York wirbt ein Laden mit amischen Produkten. Insofern ist Sam Stoltzfus' Telefon ein Zugeständnis an seine Kunden. Die Nummer gibt ihnen das Gefühl, mit ihm in Kontakt treten zu können, selbst wenn dann nur der Anrufbeantworter anspringt. In anderen Fällen haben sich die Amischen immer wieder gegen Telefone entschieden, zuletzt im Jahr 2006. Damals hatte ein Amokläufer in einer Amischen-Schule in Pennsylvania – die Religionsgemeinschaft hat in den 70ern das Recht auf eigene Bildungsstätten erstritten – auf zehn Mädchen geschossen. Nach der Tragödie wurde die Ausstattung von Schulen mit Telefonen zwar diskutiert, aber verworfen. Die Vorstellung zu sterben machte den Amischen weniger Angst als die, wie andere Menschen zu leben.

Wie das "grauenhafte Internet" die Amischen verändert

Mitglieder einer Amisch-Gemeinde in Pennsylvania. Die Kleiderordnung ist streng genauso wie es die Vorschriften einer Rasur sind.
Mitglieder einer Amisch-Gemeinde in Pennsylvania. Die Kleiderordnung ist streng genauso wie es die Vorschriften einer Rasur sind.
© dpa

Doch die klare Grenze zwischen Gemeinde und Welt ist durch ein handtellergroßes Gerät in Gefahr geraten. „Natürlich sind Mobiltelefone verboten“, sagt Sam Stoltzfus. „Aber halten sich bei euch alle an das Tempolimit auf der Straße?“ Normalerweise sind die Amischen bei Regelübertritten strenger als die Verkehrspolizei. Im schlimmsten Fall droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft, genannt Meidung. Doch seitdem es das Mobiltelefon gibt, ist Fehlverhalten nicht mehr so leicht zu bemerken. „Einen Fernseher kannst du nicht in der Hosentasche verstecken, ein Mobiltelefon schon“, sagt Stoltzfus. Und ein Handy sei ja nicht nur ein Apparat, um Anrufe zu machen. „Es bringt auch andere grauenhafte Sachen mit sich“, sagt Stoltzfus und stockt, bevor er das Wort ausspricht: „das Internet.“

Um zu verstehen, welche Angst das Netz den Amischen macht, muss man sich ansehen, wie sie ihre Kinder unterrichten. In der Walnut Hill School, nicht weit von Stoltzfus’ Farm entfernt, gibt es, damit nicht zu viel Moderne in den Klassenraum gelangt, für den Mathematikunterricht keinen Computer, sondern ein Arithmetikbuch aus dem Jahr 1934. Die Textaufgaben handeln von Gänseblümchen, Milchkanistern und ähnlichen harmlosen Dingen. Die Mühe, die man sich hier gibt, um Kinder abzuschirmen, könnte vergebens sein, wenn eins von ihnen ein Mobiltelefon mit Internet in die Hand bekäme.

Doch die Amischen haben nicht nur Sorge, dass ihre Mitglieder die Welt entdecken. Sie befürchten auch, dass die Welt sie findet – und vielleicht ist das bereits geschehen. Inzwischen herrscht in Amerika ein wahrer Kult um die Amischen. In Pennsylvania, wo 60000 Amische leben, kann man in Souvenirläden Strohhüte im Stil von Sam Stoltzfus kaufen, und täglich fahren ganze Busse in Schrittgeschwindigkeit an amischen Farmen vorbei. Weil die Amischen so ursprünglich leben, sind sie für viele Amerikaner, die sich nach einer Rückkehr der einfachen Dinge sehnen, zu einer Projektionsfläche geworden. Dass nonkonforme Gemeindemitglieder verstoßen werden, erhöht die Faszination: Hier ist inmitten der Fülle von möglichen Lebensentwürfen noch eine geschlossene Gesellschaft. Fast hermetisch abgeriegelt wirkt sie dadurch, dass die Amischen eine eigene Sprache haben, ein altmodisches, pfälzisch gefärbtes Deutsch, Pennsylvania Dutch genannt. Alle Amischen Eltern bringen es ihren Kindern bei, ein Lehrbuch gab es nie, fast war Pennsylvania Dutch eine Geheimsprache.

Von der Länge der Hutkrempe bis zu den Schnürsenkeln ist alles festgelegt

„Ich bin, du bischt, er iss, mir sin, dihr sint, sie sin.“ Kaum hat Lillian Stoltzfus in dem Café am Lincoln Highway Platz genommen, schlägt sie schon ihr Lehrbuch auf, Seite 9, unregelmäßige Verben, und beginnt zu konjugieren. Lillian Stoltzfus, 1974 geboren, stammt in neunter Generation von Nicolas Stoltzfus ab. „All meine Vorfahren haben Pennsylvania Dutch gesprochen, aufgeschrieben wurde es nie.“ Lillian Stoltzfus, deren Eltern die Amischen verlassen haben, als sie klein war, wollte das ändern. 2013 ist ihr „Speaking-Amish“-Lehrbuch erschienen, es ist das einzige seiner Art und liegt in vielen Läden in unmittelbarer Nähe der Strohhüte. Mit dem Erlös finanziert sich Lillian Stoltzfus ihr Studium. Wäre sie bei den Amischen geblieben, wäre sie nur acht Jahre zur Schule gegangen. Mehr Bildung hieße, nach Höherem zu streben, und diese Gefilde sind Gott vorbehalten. Inzwischen ist Lillian Stoltzfus 38 Jahre alt und geht immer noch zur Uni. Gerade macht sie einen Arabischkurs. Dass Gott daran Anstoß nehmen könnte, kann sie sich nicht vorstellen.

Ott-nung nennen die Amischen ihr umfangreiches Regelwerk. Zwei Mal im Jahr wird es von dem Bischof in einer Gemeindesitzung auf den neuesten Stand gebracht. Zunächst ist die Kleidung des Mannes dran, von der Länge der Hutkrempe bis zu den Schnürsenkeln ist alles festgelegt. Dann kommt die Frau. Dann der Haushalt. Dann die Farm. Dann die Jugend. Und als wäre das nicht kompliziert genug, hat jede Gemeinde – in den USA gibt es fast 2000 – ihre eigene Ott-nung. Am Beispiel Hosenträger bedeutet das: In Lancaster County sind die Amischen ziemlich liberal, nur Plastikhosenträger erlauben sie nicht. Die Renno Amischen dagegen verlangen, dass die Hosenträger selbst gemacht sind, ihre Nachbarn, die Byler Amischen, tragen nur einen Hosenträger, zwei finden sie unbescheiden, und die Nebraska Amischen lehnen Hosenträger ganz ab.

Das mag albern erscheinen, aber für die Amischen ist es harte Arbeit, das einfache Leben weiterzuführen, für das andere sie so bewundern. Ständig werden neue Produkte erfunden, ständig müssen sie entscheiden, ob sie diese zulassen. Wobei die Bischöfe nie etwas explizit erlauben, sie erwähnen es höchstens nicht mehr als verboten. So geschehen mit motorbetriebenen Rasenmähern: Kaum war von ihnen nicht mehr die Rede in der Ott-nung, haben sich die Amischen schnell einen gekauft. Besonders heikel sind die Regeln für die Landwirtschaft. 1950 konnten noch mehr als 90 Prozent aller Amischen von ihren Farmen leben, seither ist die Zahl stetig gesunken. Darum sind Traktoren und Kühltanks erlaubt, aber die Traktoren dürfen keine Gummireifen haben, damit kein Bauer mit einem auf die Straße fährt, weil er zu faul ist, sein Pferd anzuspannen. Doch solche Zugeständnisse bringen nicht viel. Für die kleinen amischen Höfe ist es unmöglich, mit hochtechnologisierten Betrieben mitzuhalten.

Wenn man Gideon Stoltzfus’ Farm, eine Stunde östlich von Lancaster, betritt, sieht man statt Kühen und Feldern nur einen riesigen Fuhrpark. Hunderte von grünen Sämaschinen stehen auf dem Hof, und zwischen Ställen und Verwaltungsgebäuden sind geschäftige Männer in Overalls unterwegs. Unter ihnen ist auch Gideon Stoltzfus, typisch amische Kluft, struppiger grauer Bart. Er stammt in zehnter Generation von Nicholas Stoltzfus ab und wollte immer nur ein bescheidener Bauer wie sein Urahn sein, doch er hat ein Problem: „Eigentlich bin ich Millionär.“

Der Luxus, wie in der Vergangenheit zu leben

Als Gideon Stoltzfus vor Jahrzehnten Bauer wurde, schenkte ihm sein Vater 15 Hektar Land. Den Rest hatten die älteren Brüder bekommen. Schon damals wusste Gideon, dass er eines Tages vor einem Problem stehen würde, wenn er ein gutes amisches Leben mit vielen Kindern führen wollte: Die Fläche, die er von seinem Vater übernahm, war zu klein, als dass man sie hätte teilen können. Gideon Stoltzfus bekam trotzdem neun Kinder. Und tat etwas, das nicht sehr amisch ist. Er kaufte Land dazu. Heute besitzt er 60 Hektar und bräuchte gar nicht mehr so viel. Würde er das Land verkaufen, bekäme er 2,9 Millionen Dollar, so sehr sind die Grundstückspreise gestiegen. Und dann gibt es noch die Sämaschinen.

Auf die Idee kam Gideon Stoltzfus, weil er als amischer Farmer eine Marktlücke sah: Große Firmen produzierten nur große Sämaschinen, die er und seine Nachbarn auf ihren schmalen Feldern nicht einsetzen konnten. Inzwischen macht Stoltzfus mit seinen zweireihigen Maschinen für Mais einen Jahresumsatz von drei Millionen Dollar und beschäftigt zwölf Leute. „Anfangs war das nur ein Nebenerwerb, jetzt ist es big business“, sagt er und klingt schuldbewusst, weil ein Amischer nicht nach Reichtum strebt.

Die Gründe, warum Gideon Stoltzfus trotzdem zum Unternehmer wurde, stehen in Reih und Glied weiter hinten auf dem Hof und fressen Heu. 40 Kühe hält sich Stoltzfus noch, ihre Milch verkauft er an eine Genossenschaft. Wie viel er damit verdient, sagt er nicht, es muss ein verschwindend geringer Betrag sein. Dass er sich mit Kühen und Landwirtschaft seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann, daran ist die strenge Ott-nung schuld. Der Bischof in seiner Gemeinde hat den Bauern zum Beispiel verboten, Leitungssysteme zu installieren, durch die sie die Milch in die Tanks leiten könnten. Er findet, sie sollten sie wie ihre Ahnen im Eimer transportieren. Zuletzt zeigt Gideon Stoltzfus, wie man eine Kuh mit der Hand melkt. So hat es auch Nicholas Stoltzfus gemacht. Rund 300 Jahre später musste sein Nachfahr erst Millionär werden, um sich den Luxus leisten zu können, wie in der Vergangenheit zu leben.

Zur Startseite