Tag gegen Kinderarbeit: Alltag in Indien - Steinbruch statt Schule
90 Prozent des Pflasters in deutschen Städten stammt aus Indien. Dort werden noch immer Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen. Am heutigen Montag ist Tag gegen Kinderarbeit.
Susmita möchte gerne Ärztin werden. Oder Lehrerin. Das ist ihr Traum. „Vermutlich wird es ein ewiger Traum bleiben“, sagt Benjamin Pütter, Berater für die Bereiche Kinderrechte und Kinderarbeit beim Kindermissionswerk „Die Sternsinger“. Seit 1980 reist er regelmäßig nach Indien. Dort hat er die 11-jährige Susmita kennengelernt. Sie arbeitet in einem Steinbruch, zusammen mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Mukesch.
Tag für Tag schlagen die Kinder dort in der prallen Hitze mit großen, schweren Hämmern Steine klein, im Sommer bei 45 Grad. Die Steine werden gebraucht – für Schotter im Straßenbau. Zur Schule gehen können die Kinder nicht, sie arbeiten als Schuldknechte. Ihre Mutter hat sich für eine medizinische Behandlung Geld bei dem Steinbruchpächter geliehen, sie kann es nicht zurückzahlen. Pütter hat viele Kinder in Indien getroffen, die in Schuldknechtschaft arbeiten müssen, andere wurden aus den Dörfern entführt.
Weltweit sind 168 Millionen Kinder prekär beschäftigt
Weltweit Kinderarbeit ist in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zwar zurückgegangen. Aber nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) – eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, deren Aufgabe es ist, internationale Arbeits- und Sozialstandards durchzusetzen – sind weltweit 168 Millionen Kinder prekär beschäftigt, die Hälfte davon ist zwischen fünf und elf Jahre alt. Viele werden in Regionen ausgebeutet, die von Konflikten und Katastrophen betroffen sind.
Mit dem heutigen Tag gegen Kinderarbeit will die ILO darauf aufmerksam machen und das globale Problem bekämpfen. 85 Millionen der Kinder arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Sie knüpfen Teppiche, arbeiten in der Baumwollproduktion, beim Anbau von Kaffeebohnen, sie stellen Feuerwerkskörper und Streichholzschachteln her, arbeiten in der Seidenindustrie oder dem Abbau von Tantalerz, das für Mobiltelefone gebraucht wird. Oder sie arbeiten in den indischen Steinbrüchen.
Indien verfügt weltweit über die größten Vorkommen an Naturstein, Granit für Grabsteine kommt hauptsächlich aus Südindien. 50.000 Tonnen Granit werden direkt nach Deutschland exportiert, mehr als 90 Prozent der in deutschen Städten verlegten Pflastersteine kommen aus Indien.
Dass die indischen Natursteine in Deutschland so billig angeboten werden können, hat viele Gründe. Aber einer der wichtigsten Faktoren ist, dass Steine oft von Kindern abgebaut und verarbeitet werden. Was in Indien nicht erlaubt ist. Seit 1960 schreibt die Verfassung auch eine Schulpflicht vor.
Aktivisten bezweifeln die offiziellen Zahlen
Die Beschäftigung Minderjähriger in gefährlicher Arbeit wird ebenso wie ihre Vermittlung als Verbrechen eingestuft und mit bis zu drei Jahren Haft geahndet. Offiziell verzeichnet auch Indien einen starken Rückgang der Kinderarbeiterzahlen, die Zahl sei von 12,6 auf 4,3 Millionen gesunken, heißt es. Aber Aktivisten bestreiten diese Zahlen.
Das Problem sei, sagt Pütter, dass die Kontrollen der Betriebe in der Regel angekündigt würden. Auch er hat in der Vergangenheit regelmäßig indische Steinbrüche aufgesucht: „Bei den angekündigten Kontrollen fand ich in keinem einzigen Fall Kinder vor – bei den unangekündigten Besuchen dagegen in allen Fällen.“ Pütter schätzt, dass in Steinbrüchen in Indien mindestens 150.000 Kinder als Arbeiter eingesetzt werden. Es ist unvorstellbar, welche Arbeit schon die kleinsten Kinder verrichten: Den gesamten Tag arbeiten sie an bis zu 45 Kilogramm schweren Schlagbohrmaschinen. Ihre körperliche Entwicklung leidet unter dieser extrem schweren Arbeit. Dazu kommt der fehlende Arbeitsschutz: Die Kinder arbeiten barfuß, ohne Schutzmaske, ohne Ohrenstöpsel und ohne Helm – verheerende Unfälle und schwerste Gesundheitsschäden sind oft die Folgen. „Die Kinder werden über kurz oder lang taub“, sagt Pütter.
Viele Mädchen und Jungen erkranken an Staublunge
Mehrfach habe er Kinder getroffen, mit denen er sich nicht einmal mehr habe unterhalten können und auch Kinder, die Finger verloren hatten. Noch schlimmer sind die Folgen des Steinstaubs, der beim Zerhacken und Zermahlen der Steine entsteht. Viele Kinder erkranken an Steinstaublunge. Nach Untersuchungen der indischen Bürgerinitiative Gravis in Rajasthan haben die Kinder aus den Steinbrüchen nur eine geringe Lebenserwartung: Wer bereits als Baby mit in den Steinbruch genommen wurde und dort aufwächst, wird meist keine 30 Jahre alt, wer mit 14 in den Steinbruch kommt, vielleicht zehn Jahre länger.
Recherchen des Westdeutschen Rundfunks machten 2004 öffentlich, dass bei der Neugestaltung des Kölner Heumarktes Pflastersteine verwendet wurden, die aus solchen Steinbrüchen stammen. Auch beim Bau des Helios-Klinikums in Berlin und der Riem-Arkaden in München sollen Steine verwendet worden sein, die in Kinderarbeit produziert wurden. In großen Teilen der Hamburger Innenstadt wurde indischer Naturstein verlegt. In die Schlagzeilen geriet auch der Oranienplatz in Berlin. Unter welchen Bedingungen die Steine produziert wurden, lässt sich letztendlich oft nicht mehr zweifelsfrei klären.
Auch bei den Grabsteinen werden die Kommunen aktiv
Das Bewusstsein, verantwortungsvoll einzukaufen und auf die Produktionsbedingungen zu achten, ist in den Kommunen allerdings gestiegen. Immer mehr Vergabeordnungen schreiben fest, dass die Lieferanten von Natursteinen garantieren müssen, dass die Kernarbeitsnormen der ILO eingehalten werden. Auch in Berlin soll es dem Koalitionsvertrag zufolge eine Reform des Vergabegesetzes geben: Eigenerklärungen der Bieter, die die Einhaltung von Sozialstandards bescheinigen, sollen nicht mehr anerkannt werden, stattdessen sollen Gütezeichen mit festgelegten Standards gefordert werden.
Auch bei den Grabsteinen werden die Kommunen aktiv: Zwei Drittel aller Grabsteine auf deutschen Friedhöfen kommen aus Indien. Um Grabsteine, die auch durch Kinderarbeit produziert wurden, zu verbannen, haben einige Bundesländer Gesetze beschlossen. Im August 2016 verabschiedete Bayern ein Gesetz, in dem die Gemeinden ermächtigt werden, in ihren Friedhofssatzungen solche Grabsteine zu verbieten. Steinmetze müssen die Herkunft ihrer Ware nachweisen. Ähnliche Gesetze gibt es in Baden-Württemberg, Bremen, Thüringen, Brandenburg und im Saarland. In Nordrhein-Westfalen ist ein Gesetz verabschiedet worden, die Umsetzung verzögert sich noch.
Gebraucht werden vertrauenswürdige Siegel
Ein Problem ist allerdings, wie rechtssichere Nachweise dafür erbracht werden können, dass die Steine tatsächlich kinderarbeitsfrei produziert wurden. Einfache Bescheinigungen von den Herstellern reichen nicht aus, gebraucht werden vertrauenswürdige Siegel.
Das Portal www.siegelklarheit.de – eine Initiative der Bundesregierung – informiert, welche Siegel vertrauenswürdig sind. Für den Kauf von Natursteinen werden die Siegel von Fair Stone und Xertifix als besonders glaubwürdig eingestuft. Das Siegel Fairstone wird vergeben, sobald Lieferanten sich per Selbsterklärung zur Einhaltung der Fair-Stone-Anforderungen verpflichtet haben. Nach einer Phase von 36 Monaten wird die Einhaltung der Anforderungen durch unabhängige Auditoren überprüft.
Auch Xertifix garantiert die Einhaltung sozialer Mindeststandards. Dabei werden zweimal pro Jahr Kontrollen in allen Produktionsstätten durchgeführt. Der Verband deutscher Natursteinverarbeiter hat ein eigenes Zertifizierungssystem. Das Siegel erfüllt aber nicht alle Mindeststandards. Nicht aussagekräftig sind auch solche Dokumente, die zum Beispiel von einer Handelsfirma ausgestellt werden und versichern, dass Natursteine angeblich nicht aus Kinderarbeit stammen.
Trotz all dieser Probleme ist Pütter optimistisch: Indien habe heute 50 Millionen Kinderarbeiter weniger als noch vor zehn Jahren. Die Zahl der Steinmetze, die nicht auf Kosten von Kindern Gewinne erzielen wollten, nehme zu. Auch die Tatsache, dass Bundesländer und Kommunen für das Thema sensibilisiert sind, lässt ihn hoffen, dass in Zukunft immer weniger Kinder zu harter Arbeit in Steinbrüchen gezwungen werden: „Vielleicht werden dann auch ihre Träume von Schule und Ausbildung wahr.“
Benjamin Pütter hat gerade auch ein neues Buch zu dem Thema veröffentlicht: „Kleine Hände – großer Profit. Kinderarbeit. Welches ungeahnte Leid sich in unserer Warenwelt verbirgt“; Heyne Verlag, Taschenbuch, 224 Seiten