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Loveparade-Tragödie: Adolf Sauerland: Der Revierverteidiger

Man fordert seinen Rücktritt, doch er bleibt im Amt. Duisburgs Oberbürgermeister Sauerland will selber aufklären, ob ihn Schuld am tödlichen Ausgang der Loveparade trifft. Und erweckt dabei den Eindruck eines Orientierungslosen.

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Die Frage, wie er sich fühlt, ist rasch beantwortet. „Ich fühle gar nicht“, sagt Adolf Sauerland, während sich sein Blick schon wieder abwendet. Er sagt: „Es gibt eine Stadt Duisburg nach diesem Ereignis. Und falls nichts Gravierendes passiert, gibt es mein Leben nach diesem Ereignis.“ Er sagt: „Jeden Morgen, wenn ich wach werde, wünsche ich mir, dass alles das, was wir erlebt haben, nur ein böser Traum ist, aber es ist Realität.“ Duisburgs Bürgermeister Adolf Sauerland sagt viel in diesen Tagen, er redet wieder, öffentlich, nachdem er scheinbar ewig geschwiegen hat.

Geschwiegen und seinen Rücktritt ausgeschlossen, ihn dann angeblich vorbereitet und dann wieder ausgeschlossen, und diese ganze Zeit über wurde immer unkenntlicher, ob es so etwas wie die Verantwortung eines Politikers für ein Unglück in seiner Stadt nun gibt oder nicht, und falls ja, woran man merkt, dass sie wahrgenommen wird. Sauerland sagt im Westdeutschen Rundfunk: „Natürlich stelle ich mir die Frage, ob man das Amt nach so einem tragischen Ereignis weiter ausüben kann. Aber diese Antwort werde ich erst dann geben, wenn ich die Antworten auf die uns alle bedrückenden Fragen habe.“ Sauerland erklärt nichts, er erklärt sich nur. Ist er der richtige Mann für die Aufklärung? „Ja, ich habe eine große Verantwortung, dass die Fragen beantwortet werden.“ Wenn er jetzt aus dem Amt scheide, sieht er Stillstand, sagt er. Er befürchte, dass ein Rathaus ohne Führung und im sofortigen Wahlkampf eben nicht aufkläre. Er nimmt sich das Recht, selbst herauszufinden, ob er schuldig ist.

Sauerland wirkt dabei wie ein Mensch, angeschlagen und unsicher, der tatsächlich dringend nach Antworten auf „bedrückende Fragen“ sucht, die ihn zermürben. Und wenn es nur eine Inszenierung ist, dann ist es eine gute. Mitte voriger Woche war ein eigens engagierter PR-Berater zum ersten Mal im Rathaus.

Die bedrückenden Fragen sind im Grunde genommen eine einzige, sie lautet: Wie konnte es zur Loveparade-Katastrophe kommen, zu 21 zertretenen Menschen und 500 Verletzten?

Klar ist mittlerweile, dass die Schuld daran auf vielen lastet. Auf dem Veranstalter, weil er die Loveparade veranstaltet und Druck auf die Behörden ausgeübt hat, ihm die Genehmigung dafür auszustellen. „Die immensen wirtschaftlichen, aber auch ideellen Schäden … wenn die Veranstaltung abgesagt werden muss, überwiegen die denkbaren Beeinträchtigungen“, schrieben seine Rechtsanwälte fünf Tage vor der Loveparade an Sauerland. Die Genehmigung wird umgehend erteilt.

Schuld lastet auf den mit der Planung befassten Mitarbeitern der Stadtverwaltung, weil sie die Gefahr nicht vorhergesehen oder sie sogar heraufbeschworen haben, auf Polizisten, die diese Gefahr nicht haben bannen können. Ebenso auf dem privaten Sicherheitspersonal, weil ganz offenkundig niemand sicher war auf dieser Veranstaltung. Auch Stadtparlamentsmitglieder und Loveparadebesucher und die DJs, die diese Besucher angelockt haben, werden Schuld empfinden. Sie tun es seit drei Wochen schon, genau wie etliche der Menschen, die vor der Veranstaltung gewarnt hatten, nur eben nicht laut genug, und wie die Rettungsärzte, die zusammenbrachen, weil sie machtlos waren gegen den Tod.

Es kennt jeder den Unterschied zwischen tatsächlicher und empfundener Schuld, und es mag auch jeder wissen, dass genau dieser Unterschied für diejenigen, die Schuld verspüren, egal ist. Man kann sich ihr nicht widersetzen, man hat sie, jeder für sich, und kein Argument der Welt kann daran etwas ändern. Das ist wahrscheinlich auch bei Adolf Sauerland so. Er sitzt im Rathaus, seine Familie hat er aus der Stadt bringen lassen, er sei „verfolgt worden, beobachtet worden“, sagt er im „Spiegel“, „Ich habe mehrere Morddrohungen erhalten.“ Ihm müsste eigentlich klar sein, dass er seine Stadt nicht mehr repräsentiert, er konnte ja noch nicht einmal zur offiziellen Trauerfeier gehen. Merkt Sauerland das nicht?

Es gibt einen Mann in Duisburg, der vielleicht eine Antwort darauf hat. Er heißt Josef Krings und ist 83, auch er war einmal Bürgermeister hier, 22 Jahre lang, er ist in der SPD und Ehrenbürger und gilt vielen als Duisburgs moralische Instanz, auch wenn er selbst bei diesen Worten immer abwinkt. Krings sitzt auf der Terrasse seines Hauses im Duisburger Süden und sagt: „Man kriegt in diesem Amt jede Menge Bestätigung. Jeder ist da in der Gefahr, jeder, dass man nur dazu da ist“, und jetzt hebt Krings den Arm, als leiste er einen Amtseid, „das Wohl des Volkes zu mehren, Gefahren von ihm abzuwenden“, man glaube, man täte mit allem, was man macht, nur Gutes, dauernd. „Man muss sich aber Leute halten, die einem mal widersprechen, man muss die päppeln.“ Hat Sauerland so jemanden?

Adolf Sauerland, Katholik, geboren 1955, seit 2004 erster CDU-Bürgermeister nach 56 Jahren SPD-Herrschaft, war beliebt in Duisburg. „Er lebte lange vom Kontrast zu meiner Nachfolgerin“, sagt Krings. „Die war autistisch. Sauerland ging auf die Leute zu. Wenn der MSV spielt, ist er da. Wenn der MSV in Mallorca trainiert, ist er auch da.“

In Sauerlands Amtszeit fielen dann tatsächlich auch Großtaten des Miteinanders, der nahezu konfliktlose Bau einer Großmoschee im Stadtteil Marxloh zum Beispiel, Krings sagt, „der ist mit dem Problem Ausländer hervorragend umgegangen, der hat das gepackt, das bewundere ich.“ Das Wiedererwachen der einst menschenverlassenen, verödeten Duisburger Innenstadt gehört auch dazu, es wurde gebaut, und damit die nicht gleich wieder einschläft, hat Sauerland den Architektenstar Norman Foster einen Masterplan für ihren langfristigen Komplettumbau erarbeiten lassen.

Als rechtschaffenen Mann des Volkes schildern ihn viele. Ehemalige Kollegen aus seiner Zeit als Berufsschullehrer sagen das, sogar manche aus der SPD sehen das ähnlich, sie ergänzen das Bild aber noch um die Adjektive „hemdsärmelig“ und „unernst“, und aus der Rathaus-Verwaltungsspitze werden die Worte „konfliktscheu“ und „entscheidungsschwach“ kolportiert.

Parteifreunde aus Sauerlands Heimat-Ortsverband Duisburg-Walsum nennen ihn einen „Macher“. Krings sagt, „Reflexion ist nicht sein Ding.“ Die Härte dieses Urteils wird ein wenig gemildert durch den rheinischen Tonfall, in dem es vorgetragen wird, und dadurch, dass Krings im Gegensatz zu vielen anderen, die in diesen Tagen etwas über Sauerland sagen, keine Absichten damit verfolgt. Er sagt es nur. Und er hat alles Recht dazu.

Im Winter 1987/88 hat Krings sich in einer ähnlichen Lage befunden wie Sauerland heute. Krupp wollte ein Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen schließen und damit tausende Menschen arbeitslos machen. Krings ist zu den protestierenden Stahlarbeitern gegangen, er hielt keine Reden, er war nur da, dauernd, und als sie ihn „Judas“ nannten, weil sie glaubten, er mache hinter ihrem Rücken gemeinsame Sache mit Krupp, erst recht. Es war ein aussichtsloser Kampf, auch Duisburger Bürgermeister haben wenig Einfluss auf einen Stahlkonzern, aber darum ging es nicht. Es ging Krings darum, etwas zu zeigen. Ich bin bei euch.

Bei Sauerland hat man diesen Eindruck nicht. Als er Blumen am Unglücksort niederlegt, wird er ausgebuht und beworfen. Und er zieht sich ins Rathaus zurück. Er sagt, egal, was er auch mache, „es ist garantiert falsch.“ Man kann nicht angemessen reagieren auf etwas, das so monströs ist wie die Katastrophe vom Loveparade-Samstag. Dem alten, weisen Krings ist das früh klar geworden. Ins Kondolenzbuch im Rathaus schrieb er: „Alles Menschliche hat Maß. Am Samstag gab es kein Maß. Hier geschah Unmenschliches.“

Dort, wo das Kondolenzbuch liegt, im Rathaus, sitzt der Stadtdirektor Peter Greulich in seinem Büro, vor sich auf den Tisch hat er einen Computerausdruck gelegt, eine vergrößerte Variante eines Zeitungsfotos. Es zeigt einen auf ein Plakat gemalten Sauerland, zu dessen Füßen ein Scheiterhaufen brennt, über der Brust ein Schild, auf dem „Ich habe das verdient“ steht. Das Plakat, umgeben von Tausenden Grablichtern, von Mitgefühls- und Hassbekundungen, hing ein paar Tage zuvor noch an dem Zaun, der an der Unglücksrampe des alten Duisburger Güterbahnhofs steht. Die Stadt hat es schließlich entfernen lassen. Greulich sagt: „Ich glaube, man muss auch den Spitzen der Politik und dem Rathaus zugestehen, dass das eine unglaubliche, erdbebenhafte Situation gewesen ist.“ Er schaut wieder auf das Foto. Er klingt milde, als er sagt: „In Ausnahmesituationen muss und kann der Mensch viel verstehen.“

Greulich ist Grüner, Sauerlands Stellvertreter und sein mächtigster Verteidiger im Rathaus. Vor zehn Tagen hat er einen Brief an alle Verwaltungsmitarbeiter geschrieben, die wichtigsten zwei Sätze darin lauten: „Man tritt nicht ohne Schuldnachweis zurück! Nicht, wenn es um den erdrückenden Vorwurf geht, den Tod von 21 Menschen mitverantwortet zu haben.“

Er steht mit dieser Ansicht in seiner Partei sehr allein da. Es ist ihm egal. Er sagt, es gibt Wichtigeres als seine politischen Freunde in Berlin, spricht von seiner Schulbildung, der Renaissance, dem Humanismus, der Aufklärung, die er wortwörtlich nimmt. Moralisch richtiges Verhalten in dieser Situation sei die Aufklärung der Loveparade-Katastrophe, ein Rücktritt als symbolisches Opfer, „das fände ich dramatisch“.

Doch wird überhaupt aufgeklärt? Oliver Hallscheidt hat Zweifel daran. Hallscheidt ist zweiter Geschäftsführer der Duisburger SPD, er hat etwas herausbekommen. Als die Stadt vor einer Woche einen ersten Ermittlungsbericht präsentierte, der die Verwaltung weitgehend von Schuld freisprach und dafür die Polizei belastete, diente zur Untermauerung dieser These auch ein Foto, das einen mitten auf einem Fluchtweg abgestellten Polizeiwagen zeigte. Es sollte als Beleg dafür dienen, dass die Polizei in den entscheidenden Momenten Fehler gemacht hat. Hallscheidt sagt, er hat den Fotografen angerufen, und der erzählte ihm, dass das Bild Stunden vor der Katastrophe aufgenommen wurde.

Hallscheidt weiß, dass seine Aufklärungsversuche einen Makel haben. Er ist nun einmal der politische Gegner, seine Partei zieht einen Gewinn aus Sauerlands Scheitern. Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Aufklärung überlagert von parteipolitischen Interessen, alle Beteiligten wissen das und viele bedauern das auch, aber anders geht es nicht. Das Maß ist abhandengekommen, und keiner kann etwas dagegen tun.

So wie niemand etwas dagegen tun zu können schien, dass die Loveparade in Duisburg stattfand. Während auf dem Güterbahnhof schon die Bässe wummerten, sagte Sauerland: „In diesem Jahr waren wir, ja, einfach im Zwang, es hinkriegen zu müssen.“ Sonst wäre die Loveparade „gestorben“. Kurz darauf starben Menschen, auch weil jener Mahner aus der Stadtverwaltung nicht gehört worden war, der im Oktober schon vor einer „erheblichen Engstelle“ warnte. Und auch der Duisburger SPD-Fraktionschef stellte auf einer Stadtratssitzung im Januar konsterniert fest, dass ihn die „Beschreibungen zu dieser Veranstaltung“ sehr erschrocken hätten. Das Sitzungsprotokoll vermerkt: Er, Herbert Mettler, „frage sich ernsthaft, wie man die dort beschriebenen Risiken beherrschen wolle“.

Früh war auch das Risiko, eine einzige Rampe als Ein- und Ausgang zum Loveparade-Gelände zu haben, ausgesprochen worden. Es scheint sich in allen weiteren Planungen einfach verflüchtigt zu haben. Und Sauerland war in sie einbezogen, von Anfang an. Das gibt er nun zu. Als ihnen die Zeit davonlief, drang er darauf, dass die Verwaltung Lösungen findet. „Wir übernehmen Verantwortung“, sagt Sauerland heute. Nach einer Pause korrigiert er. „Wir heißt in diesem Fall auch ich.“

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