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Zum Wasser, in die Tiefe! Die geretteten Seehunde wissen sofort, wo sie hingehören. Die Sandbank wird bald darauf von der Flut überspült.
© Stefan Jacobs

Niederländische Nordsee: Mit Kind und Kegelrobbe unterwegs im Wattenmeer

Die Niederländer haben ein Herz für Seehunde. In Pieterburen werden Heuler aufgepäppelt. Touristen können ihnen beim Robben in die Freiheit helfen.

Das Unglück passiert, als das Glück nur noch wenige Stufen entfernt ist. Der Kapitän hat die „Happy Seal“ mit dem Bug sanft auf die Sandbank gesetzt, die die Nordsee während der abendlichen Ebbe freigegeben hat. Ein paar Meter weiter haben Helfer bereits die vier Holzkisten mit den Seehunden von dem Floß gehievt, das die „Happy Seal“ im Schlepptau hierhergezogen hat vor die Insel Schiermonnikoog. An diesem blitzblanken Frühlingsabend sollen die Tiere, die vor Monaten als Babys gerettet und seitdem zu properen Jugendlichen gepäppelt wurden, freigelassen werden. Ein magischer Moment steht an. Doch plötzlich macht es „Platsch“: Ein Kind ist beim Aussteigen von der Leiter am Bug gefallen. Und ausgerechnet das eigene! Wasser rinnt aus der Jacke, Schlick quillt aus den Schuhen, Tränen rollen übers Gesicht. Erst zittert nur das Kinn, dann die ganze Siebenjährige. Es ist Frühling, also keine Badesaison für Nicht-Seehunde.

Wahre Größe zeigt sich bekanntlich in der Not, und wenn Besatzung und Passagiere der „Happy Seal“ repräsentativ fürs Land sind, wachsen die Niederlande jetzt auf Weltspitzenniveau. Der Floßpilot spendiert dem Kind seine Jacke und setzt es auf die erste der vier Holzkisten, die nun mit dem Ausgang Richtung Wasser auf der Sandbank stehen. „Princess Consuela“ steht am Deckel. Vielleicht hat eine spanische Praktikantin in der Pflegestation das Seehundemädchen so genannt.

Auch auf den anderen Kisten sitzen Kinder. 3 – 2 – 1 – los!, zählen die Zuschauer, und die Kinder lupfen die Deckel, die die Seehunde von der Freiheit trennen. Stracks robben die Tier ins Meer, tauchen jedoch noch mal auf für einen Blick zurück zum Strand.

„Consuelo“ heißt Trost

Während die Gemeinde auf der Sandbank den feierlichen Moment zelebriert und das Kind zumindest um die Augen herum wieder trocknet, hat der Kapitän die „Happy Seal“ noch etwas weiter auf die Sandbank gefahren. Seine Frau holt Handtücher und Plastiktüten. Die Mutter eines anderen Kindes kommt mit an Bord, um die Wechselsachen zu spendieren, die sie vorsorglich eingepackt hatte. In der Kombüse dampft bereits eine Suppe zum Aufwärmen. Alles ganz selbstverständlich und völlig unaufgeregt. Und dann bringt der Floßfahrer auch noch das Namensschild von der Kiste vorbei – als Andenken. „Consuelo“ heißt Trost; Consuela muss dann seine Schwester sein.

Irgendwo unter den glitzernden Wellen schwimmen die Stars des Abends nun herum, während die anderen Passagiere noch eine Runde mit Müllsäcken über die Sandbank drehen, um Plastik einzusammeln und etwas von dem wild gemischten Kram, der angespült wird, seit im Januar ein Frachter bei Sturm fast 300 Container verloren hat.

Als die „Happy Seal“ bei Sonnenuntergang zurückkehrt in den Hafen von Lauwersoog, hat das Kind sein Lachen wiedergefunden und eine neue Freundin: Puck aus Den Haag, die demnächst ein Paket mit ihren Klamotten aus Berlin bekommen wird. Die Verständigung gelingt dreisprachig: Deutsch, Niederländisch, Gummibärchen. Urlaub gerettet!

Pieterburen ist kein Streichelzoo

Wirklich ins Wasser gefallen wäre die Reise wegen des Malheurs ohnehin nicht. Dazu sind die Aktivitäten im Trockenen viel zu interessant. Allen voran die Seehundestation im Dorf Pieterburen, das eigentlich eine Tierklinik mit Besucherbereich ist. Tiere, die hier landen, wurden als Baby von der Mutter verlassen, haben sich in Fischernetzen verfangen oder lagen von Parasiten geschwächt herum, bis ein Mensch die Seehundrettung angerufen hat. Das Netzwerk der „Stranding Coordinators“ ist in den Wattenmeerprovinzen Groningen und Friesland allgemein bekannt.

Gleich hinterm Eingang mit Ausstellung und Shop geht’s zu den Reha-Becken, in denen die Robben posieren wie beim Wasserballett. Oben kann man ihre Köpfe mit den erwartungsvollen dunklen Augen sehen und unten durch ein Fenster mit bequemem Kissenlager ihre Schwimmkünste. Die Seehunde sind zurzeit in der Mehrheit – hier, aber auch im Meer.

Dabei waren sie nach jahrzehntelanger Jagd in der Region ebenso fast ausgestorben wie die deutlich größeren, gepunkteten Kegelrobben. Die würde man jetzt schon gern mal anfassen, aber das ist streng verboten. Erstens sind die mehr als 200 Kilo schweren Robben die größten Raubtiere zwischen Atlantik und Ostsee, und zweitens ist Pieterburen kein Streichelzoo, sondern ein Artenschutzprojekt, das Wildtiere fit machen will fürs wahre Leben. Auch fürs Pflegepersonal gilt striktes Spielverbot.

Pieterburen liegt ein paar Kilometer landeinwärts vom Nordostzipfel der Niederlande. Unter den lose im platten Land verteilten Dörfern ist es mit seinen aufwendig gepflegten Hecken und dem botanischen Garten neben der Kirche eines der schicksten. Besucher, die nicht wegen der Seehunde kommen, kommen – und vor allem: gehen – wegen des „Pieterpad“. Die 492 Kilometer lange Route von Pieterburen bis nach Sint Pietersberg bei Maastricht an der belgischen Grenze ist der Fernwanderweg der Niederlande.

Im Indoor-Kletterpark werden Kindheitserinnerungen wach

Auf Rundkurs. Den Kinder-Kletterpark „Waddenfun“ hat Siegrid Hekma in einem ehemaligen Kuhstall eingerichtet.
Auf Rundkurs. Den Kinder-Kletterpark „Waddenfun“ hat Siegrid Hekma in einem ehemaligen Kuhstall eingerichtet.
© Stefan Jacobs

Aber mit Wanderwegen muss man Kindern nicht kommen. Es sei denn, sie führen durch den ehemaligen Kuhstall von Siegrid Hekma und Ron Claassen. Der liegt einsam an einer schmalen Straße beim Dörfchen Wehe den Hoorn und beherbergt den größten Indoor-Kletterpark der Gegend. Zur Auswahl stehen Parcours in einem, fünf und acht Metern Höhe – und alle sind auch schon für Kita-Kinder zugelassen, sofern die Kraft und Nerven dafür haben. „Als Kinder sind wir doch auch geklettert!“, erklärt Siegrid ihre Mission. „Also wecken wir hier Kindheitserinnerungen und geben den Leuten das Gefühl, dass sie viel mehr können, als sie glauben.“ Der umgekehrte Fall komme nur selten vor.

Schulklassen, Firmen und urlaubende Familien machen die Kundschaft aus, die zwischen echt aussehenden Pappmaché-Fresken einer einst durchs Land gezogenen „Nabucco“-Aufführung neue Perspektiven erleben kann. Vor allem, wenn sie nach vollbrachter Indoor-Runde das Türchen im Giebel öffnet und aus dem Obergeschoss hinausschaut über die Felder. Hier könnte man schon morgens jene sehen, die mittags vorbeigewandert kämen.

Aber in Wahrheit hat man nur Augen für das Seil, an dem man mit dem doppelten Sicherungshaken 200 Meter weit übers Feld saust: Wer den für Höhenängstliche nicht ganz leichten Absprung schafft, braust mit einem satten Sssssssst über Kraut und Rüben. Wenn das geschafft ist, kann man auf Wunsch noch für Kaffee, Kuchen und Schnitzel bleiben oder eine Runde Bogenschießen. Rund 10 000 Gäste empfangen die ehemaligen Landwirte hier pro Jahr. Siegrids Herzlichkeit ist groß genug für alle.

Ein Seepferdchen, das einen Käsewürfel frisst

Dem Kind war das Land schon auf der Hinfahrt ans Herz gewachsen, als das Zugpersonal Hengelo, Almelo und Heino ankündigte: „Niederländisch klingt irgendwie nett.“ Unaufgeregte Freundlichkeit verbreitet auch Barbara Rodenburg, die als Fischerin das Restaurant T’Ailand am Hafen von Lauwersoog betreibt und ein besonderes Kinderprogramm anbietet: Plankton vissen & bekijken. Das klingt zu schön, um übersetzt zu werden. Konzentriert ziehen Fischerin und Kind den am Kescher befestigten Plastiktopf durchs Becken. Eigentlich läuft er in einer Sekunde voll, „aber ich schöpfe lieber länger“, sagt Barbara und vermutet, das sei eine Charakterfrage: „So muss man als Fischer sein, sonst fängt man nichts.“

Mit scheinbar klarem Wasser geht’s ins Restaurant, wo Barbara ein Mikroskop aufgebaut hat und per Pipette zwei Tropfen aufs Glas träufelt. Im Okular erscheint eine grünliche Perlenkette, dann ein Ring mit Sternen und Spießen. „Das sind Larven, die sich verbunden haben, um nicht so leicht gefressen zu werden“, sagt Barbara. Nun schaut das Kind – und berichtet: „Ein Seepferdchen, das einen Käsewürfel frisst! Eine Schildkröte! Ein einäugiges Monster! Ein Wurm mit Stacheln! Eine Flohfalle! Ein Steuerrad!“ – „Ja, das ist immer wieder schön“, sagt Barbara, die inzwischen einen Teller Austern gemacht hat. Die isst man hier wie anderswo das Gemüse aus dem Garten.

Während die Ebbe allerlei Köstlichkeiten im Schlick freilegt, bleibt die Fahrrinne jederzeit tief genug für einen Ausflug nach Schiermonnikoog. Die Fähre startet auf der anderen Hafenseite und braucht eine gute Stunde bis zur östlichsten bewohnten Wattinsel der Niederlande. Elektrobusse pendeln zwischen Hafen und dem Dorf, in dem die knapp 1000 Insulaner fast autofrei leben.

Mammutzehenknochen im Muschelmuseum

Am Stadtpark, dessen Portal der Unterkiefer eines von einem Einheimischen 1950 gefangenen Blauwals bildet, kommt Thijs de Boer angeradelt, Muschelmuseumsbetreiber und bester Kenner jener 37 als Nationalpark geadelten Quadratkilometer Treibsand. Thijs faltet erst mal eine Karte auf und zeigt, wo das alte Dorf war: südwestlich des heutigen im Wasser. Also etwa da, wo wir Princess Consuela freigelassen haben. Die Nordsee befördert die Insel allmählich ostwärts.

Thijs spaziert den Weg entlang, der quer durch die Hausgärten führt, und steuert Richtung Leuchtturm, wo die Dünen in der Sonne flimmern, bevor sie zum fast unglaublich breiten Strand hin abfallen. Immer wieder ist der blecherne Ruf von Fasanen zu hören. Mehr als 650 Wildpflanzenarten gebe es auf der Insel, berichtet Thijs, während er sich durchs Gestrüpp kämpft und sein Rezept fürs lange Leben verrät: „Von August bis Januar jeden Tag zwei Sanddornbeeren und ich bin nie krank.“

Die Runde endet am „Westpunt“, wie das Haus der de Boers am Ende der Dorfstraße heißt. Die Giebelwand ist hinter einer Deko aus alten Bojen, Kampfflugzeugresten und Hummerkeschern verschwunden. Das Potpourri weist den Weg zum Muschelmuseum, das Thijs eingerichtet hat, als seine Funde nicht mehr ins Haus passten. Die Exponate reichen vom Mammutzehenknochen bis zu Krabben, deren größte Fertigpizzaformat hat, während die kleinste nur unter der installierten Lupe zwischen den Stacheln eines Seeigels erkennbar ist. Die Gummistiefel sind die Dienstkleidung des ehemaligen Lehrers. Jeden Tag ist er am Strand unterwegs. Von 14 bis 17 und 20 bis 22 Uhr öffnet er das Museum – „wenn wir nicht gerade im Urlaub sind“. Urlaub bedeutet, dem Hobby an fernen Stränden nachzugehen; „nach Österreich fahren wir nicht“.

Das Land hinter Schiermonnikoog ist voller Highlights

Wobei nach einem Tag auf Schiermonnikoog die Frage auftaucht, ob man überhaupt wegfahren möchte von einem Ort wie diesem. Gut, die Insel mag sich auf Dauer etwas klein anfühlen. Aber das Land dahinter ist weit und – obwohl so platt – voller Highlights. Da wäre noch Winsum mit seinen für jedermann schiffbaren Kanälen, das auf halbem Wasserweg vom Meer zur Provinzmetropole Groningen liegt und dem diese Lage über Jahrhunderte Wohlstand sicherte.

Groningen selbst muss natürlich auch sein: 230 000 Einwohner, davon 50 000 Studenten und ein modernes Museum im Wasser des Zuiderhavens, das wie eine farbenfrohe Verkleinerung des Guggenheim-Monuments von Bilbao wirkt. Und wer die Großstadt scheut, klappert halt die Dörfer ab und schaut sich im Klompenmuseum, dem Insektenzoo oder in der Senfmanufaktur um. So lange halt, bis das Kind wieder ans Meer möchte, wo Princess Consuela und ihre Gefährten wohnen. Oder bis einem auffällt, dass man in den Niederlanden auch prima Rad fahren kann – und das auch außerhalb der regulären Badesaison.

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