Interview mit Anne-Sophie Mutter: „Mit Ärmeln würde ich sterben“
Schlüsselbein und Kieferknochen übertragen die Vibrationen ihrer Stradivari. Ein inniges Gefühl: Anne-Sophie Mutter ist mittendrin im Klang.
Frau Mutter, Sie waren ein Wunderkind, sind als 13-Jährige mit dem Stardirigenten Herbert von Karajan aufgetreten, dann kam die Weltkarriere. Haben Sie einen Tipp, wie Eltern ihre Kinder für den Instrumentalunterricht begeistern können?
Man beginnt am besten im Alter von fünf Jahren, ohne große Erklärungen. Drücken Sie dem Kind eine kleine Fiedel in die Hand, eine Blockflöte oder eine Trommel. Diese Instrumente kann man sich auch leihen! Das Allerwichtigste aber ist, dass Musik im Alltag eine Rolle spielt: Das Kind muss erleben, dass Mama und Papa das cool finden. Wenn Klassik beim Frühstück im Radio läuft, geht davon die Welt nicht unter. Man muss ja nicht immer dabei still in der Ecke hocken und die Hände falten.
Das genügt?
Für mich ist es selbstverständlich, kleine Kinder mit in die Oper zu nehmen. Manche trauen sich ja nicht, aus Angst, das Kind könnte stören. Bedenken, denen man in Osteuropa oder auch in Fernost nicht begegnet. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder das Kind schläft ein – oder es ist begeistert. Oper, das kann so selbstverständlich sein wie spazieren gehen oder basteln.
Gut, das Kind schnappt sich die Blockflöte und bläst rein. Nach einer Stunde platzt den Eltern der Schädel. Wie geht’s jetzt weiter?
Ohropax. Die Wachs-Version kann ich sehr empfehlen. Anschließend eine Musikschule aufsuchen und das Kind verschiedene Instrumente durchprobieren lassen. Bei meinen Kindern hat das funktioniert.
Erzählen Sie mal.
Mein Sohn spielt heute Klavier – und Tennis. Meine Tochter ist bei der Querflöte hängen geblieben. Ihre Beziehung zu dem Instrument wurde zwar nicht so innig, wie ich mir das gewünscht hätte, doch es hat zu einer unglaublichen Gehörschulung geführt. Neulich war sie dabei, als ich in Salzburg ein Konzert in memoriam Herbert von Karajan spielte, und erzählte mir nachher, es habe sie sehr bewegt. Warum bewegt sie das so? Nur weil ihre Mutter da vorne steht? Nein, weil sie Zugang zur Musik hat, von klein auf, weil sie dafür sensibilisiert wurde.
Das bedeutet, ein Kind ist darauf angewiesen, dass seine Eltern es aktiv an die Musik heranführen?
Wir können nicht alles auf die Politiker und auf die Schulen abwälzen. Und es gibt ja auch viele wunderbare, engagierte Musiklehrer. Nur haben die überhaupt kein Standing in unserer Gesellschaft. Sie werden nicht nur miserabel bezahlt, sondern darüber hinaus auch nicht ernst genommen, weil Musik nicht karriererelevant ist.
Es gibt ehrgeizige Eltern, die hören selber keine Klassik und wollen trotzdem, dass ihr Kind ein Instrument lernt. Als Statussymbol. Kann das klappen?
Es wäre auf jeden Fall nicht authentisch. Musik ist etwas, das man teilt. Man macht sie nicht für jemanden, sondern mit jemand anderem. Darum ist sie eben auch so ein toller Empathie-Träger. Ich habe gerade dieses Büchlein vom Dalai Lama gelesen, „Ethik ist wichtiger als Religion“. Nach seinem Verständnis werden wir zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl. Das erinnerte mich an meine Liebe zur Musik und meinen starken Glauben daran, dass Musik auch schon im Kindergarten ein großartiger Brückenbauer sein kann. Weil sie Geduld lehrt und den Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Wurzeln. Wir brauchen das dringend.
Wie fördert man den Ehrgeiz des Kindes, ohne es zu überfordern?
Im Idealfall findet ein Kind das Instrument, mit dem es sich anfreundet. Dann läuft die Sache fast von allein. Es will gar nicht mehr aufhören. Ich hatte das große Glück, dass meine erste Geigenlehrerin den Unterricht völlig spielerisch gestaltete. So wünscht man sich natürlich überhaupt jede Art von Unterricht.
Dieses Glück hat nicht jeder.
Dann bedarf es des völligen Rückzugs der Eltern und eines sehr geduldigen Musiklehrers, der dem Heranwachsenden ganz beiläufig die Liebe zur Musik vermittelt. Wir wollen ja kein Volk von Profimusikern erziehen. Vielleicht macht es irgendwann doch noch „klick“. Vielleicht gründet das Kind eine Band, mit 13, 14. Da passt nix zusammen, die Mädels finden es natürlich super. Hauptsache, die Saat wird gelegt und gepflegt. Wenn sie aufgeht, ist es schön, wenn nie der Wille daraus erwächst, sich am Instrument zu perfektionieren, ist das auch okay. Doch schon das reine Zuhören ist selbstverständlich ganz anders, wenn man seine Sinne zuvor geschärft hat.
Gibt es einen Moment, ab dem man sagen sollte: Kind, es hat keinen Zweck, lass die Finger davon?
Das würde ich nie sagen.
Und wenn es einfach nicht vorangeht im Unterricht?
Dann ist der Lehrer schuld. Also, das eigene Kind kann doch nicht so blöd sein. Das kann nur am Lehrer liegen!
Brahms riet: Eine Stunde weniger üben, eine Stunde mehr lesen!
Da müssen Sie ja selbst lachen! 1997 haben Sie eine Stiftung zur Förderung Hochbegabter gegründet. Was bringen Sie denen bei?
Mein erster Geigen-Stipendiat war Wei Lu, der heute Konzertmeister beim Deutschen Symphonie-Orchester ist. Ich habe ihn kennengelernt, als er 17 war, und aus Peking nach Europa geholt. Er war schon damals ein fantastischer Techniker, hat geübt wie ein Besessener. Doch er war völlig fremd in unserer Kultur. Also bin ich mit ihm rudern gegangen und auf Berge gestiegen, ich habe ihn zu Maler-Freunden geschleppt. Jahrelang muss er sich gedacht haben: Die Frau hat sie nicht alle, ich will doch bei ihr nur Geige lernen! Ich habe ihm aber keinen Geigenunterricht erteilt. Ich hab’ ihm Bücher gegeben und den Rat von Johannes Brahms: Eine Stunde weniger üben, eine Stunde mehr lesen! Er ist ein wunderbarer Musiker geworden, nicht nur Spezialist geblieben auf der Geige. Ein Riesenglücksfall. Weil er während seiner Zeit als Stipendiat auch als Mensch gewachsen ist.
Sie geben auch Konzerte zusammen mit Ihren Schützlingen. Auf Ihrer aktuellen CD spielen Sie mit „Mutter’s Virtuosi“ im inzwischen geschlossenen Club „Neue Heimat“ am RAW-Gelände.
Ich hatte zuvor ja schon im Asphalt Club am Gendarmenmarkt gespielt. Das war für mich ein Augen- und Ohrenöffner. Dass es geht und auch stimmig ist! Doch die Akustik dort war schlecht, zu trocken wegen der niedrigen Decke. In der „Neuen Heimat“ in Friedrichshain hatten wir viel bessere Bedingungen. Was mir an solchen Auftritten gefällt, ist die Nähe zum Publikum. Die Leute sitzen so dicht an der Bühne, dass ich sie körperlich spüren kann, ihre Stille, ihr Luftanhalten, beispielsweise bei dem Thema aus „Schindlers Liste“. Mir ist das sehr unter die Haut gegangen. Das inspiriert auf eine Art und Weise, das kann ich gar nicht erklären.
Versuchen Sie es?
Wir schallen nicht nur runter, im Idealfall empfangen wir auch ein Signal vom Publikum: Wir hören dir zu.
Wann haben Sie das zum ersten Mal gespürt?
Ich erinnere mich an ein Karajan-Konzert, das muss 1977 gewesen sein. Er dirigierte Anton Bruckners siebte Sinfonie – da musste ich während des langsamen Satzes raus aus dem Saal, das war mir furchtbar peinlich, ich hatte einen derartigen Weinanfall! Diese Musik war von einer Schönheit, einer inneren Spannung und einer Größe. Ich hab’s nicht ausgehalten.
Kunst soll uns aus uns selbst herausschütteln.
Das ist der Moment, wo es …
… zu übermächtig wird! Solche Momente sind natürlich besonders schön, weil sie nichts Alltägliches sind. Dafür ist Kunst da! Als ich zum ersten Mal in Amsterdam van Goghs Bild mit dem Weizenfeld und den Krähen gesehen habe, vielleicht war ich 15, da war ich erschüttert. Das ist es ja, was Kunst mit uns anstellen soll: Es soll uns aus uns selbst herausschütteln, damit wir Intensität fühlen. Dann ist da ja auch noch das Gemeinschaftserlebnis. Das ist in der Musik anders als beim Fußball, wo zwei Mannschaften gegeneinander spielen. In der Musik gibt es keinen Wettbewerb, da geben wir alle unser Bestes und treffen uns auf dieser Insel der Seligen. Und alles ist Handarbeit.
Wie klappte es mit dem Konzertritual im klassikfernen Ambiente eines Clubs?
Das Club-Publikum hat mich deshalb so begeistert, weil es mich daran erinnert hat, was man über Aufführungen der Mozart-Zeit weiß: Da wurde dazwischen geklatscht, improvisiert, da war richtig Stimmung in der Bude. Das ist etwas, was der Musik gut bekommt. Ich finde, die Leute dürfen ruhig mal zwischen den Sätzen applaudieren. Das Publikum benimmt sich immer so wahnsinnig anständig.
Sie haben bei Ihren Moderationen das Publikum geduzt. Warum?
Die sind so alt wie meine Kinder und deren Freunde, darum fühlte es sich richtig an.
Das war Neuland für Sie. Waren Sie eigentlich aufgeregt?
Oh ja. Für mich waren diese beiden Abende tatsächlich meine Mondlandung. Ich liebe das Repertoire, mit dem ich schon so lange lebe, aber ab und zu will ich zeigen, dass die Geige eine groovy Seele in sich trägt. Das geht im Konzertsaal weniger gut, dazu braucht es einen intimen Rahmen.
Bei dem Clubkonzert war es sehr heiß. Schadet das Ihrer Stradivari?
Heikel sind schlagartige Temperaturwechsel. Wenn es langsam immer wärmer wird, reagiert das Holz besser, und die Gefahr eines Risses ist nicht so groß. Bei starker Hitze muss halt das Taschentuch raus, damit der Lack nicht durch zu viel Transpiration beschädigt wird.
Das Taschentuch kommt …
… auf die Schulter, damit das Instrument geschont wird.
Grundsätzlich bevorzugen Sie schulterfreie Kleider bei Ihren Auftritten.
Ich würde sterben mit Ärmeln. Das geht gar nicht.
Geht es um Bewegungsfreiheit?
Nein, die wichtigste Komponente ist der Hautkontakt. Es fühlt sich einfach wunderbar an, wenn man die Geige auf die Haut legen kann. Zuallererst ist es dieses innige Gefühl. Man spielt ja auch nicht Klavier mit Handschuhen.
Und wie fühlt es sich an auf der Haut?
Gut. Man fühlt natürlich die Vibration, weil die Geige ja auch auf dem Schlüsselbein liegt, und über den Kieferknochen übertragen sich dann die Schwingungen, sodass man mittendrin ist im Klang.
Als ob man singen würde?
Ja.
Warum Anne-Sophie Mutter auch im Jogginganzug spielen könnte ...
Sie sind ja nicht nur für schulterfreie Kleider bekannt, sondern für ihre extravaganten Roben, die Sie fast wie eine Meerjungfrau wirken lassen. Beeinflussten diese Schnitte auch Ihr Spiel? Wenn so ein Kleid dazu zwingt, besonders gerade zu stehen?
Also wirklich!
Jetzt lachen Sie. Schon gut. Anders gefragt: Könnten Sie im Jogginganzug ebenso gut spielen?
Ha, ha, im schulterfreien Jogginganzug? Im Ernst: Es ist wie ein Gewand, das der Priester bei rituellen Handlungen trägt. Das ist untrennbar mit dem Moment des Auftritts und der Sammlung verbunden. Ich habe etwas gefunden, das mich wenig stört. Ich habe damit ja schon genügend Probleme beim Auftritt: das Repertoire, die Tagesform, die Hitze, womöglich ein Haar, das in den Augen hängt …
Was machen Sie dagegen?
Blinzeln. Auf die nächste Orchesterstelle warten, bis ich mir das blöde Teil aus den Augen wischen kann. Einer Stipendiatin von mir, eine Koreanerin mit wunderschönen langen Haaren, fielen in einem Wettbewerb während einer besonders wilden Passage ihre nass geschwitzten Haare über den Steg, und sie fuhr mit dem Bogen drüber. Und sie musste so weiterspielen bis zum Ende, mit dem völlig lapprigen Bogen. Eitelkeit ist schön und gut, auf der Bühne muss man dennoch aufpassen, dass nichts passiert, was von der Arbeit abhält. Am Ende des Tages sind wir sehr hingebungsvolle, topseriöse Musiker – und keine Models.
Wenn Sie mit Ihrer Geige ins Flugzeug steigen …
… dann versuche ich mich vorzudrängeln, damit ich das Instrument auf jeden Fall im oberen Gepäckfach direkt über mir verstaue. Nach den offiziellen Normen ist so ein Geigenkasten zu lang fürs Handgepäck. Ich kann kein Stück davon abschneiden.
Und wie halten Sie es bei der Sicherheitskontrolle? Durchleuchten oder nicht?
Ich hab mit Geigenbauern gesprochen, die sind der Meinung, dass es gesünder für das Instrument ist, durchgeschoben zu werden als unsachgemäß angefasst. Die Alternative ist ja, dass ich es auspacke. In Italien hat mal ein Zöllner mit dem Fingernagel aufs Holz geklopft. Den habe ich fast umgebracht. Der Abdruck ist tatsächlich noch zu sehen. In Amerika habe ich sogar mal einen Flieger verpasst, weil ich mich geweigert hatte, die Geige abzugeben. Ich hab gesagt, ich mach alles, was Sie wollen, aber Sie dürfen sie nicht anfassen. Da sind die total durchgedreht. Der Supervisor war dann verständiger.
Was genau ist denn das Mysterium bei einem alten Instrument?
So esoterisch es klingt, Streicher sind davon überzeugt, dass ein Instrument durch den Spieler einen ganz eigenen Klang entwickelt. Kürzlich habe ich die Geige des legendären, 1962 verstorbenen Virtuosen Fritz Kreisler gespielt. Ich sage Ihnen: Es war freaky. Ich klang plötzlich wie Fritz Kreisler. Ein irres Erlebnis. Wir hinterlassen alle einen genetisch-künstlerischen Imprint auf dem Instrument, wenn wir es lange genug spielen.
Das passiert doch nur im Kopf des Interpreten.
Für einen Außenstehenden mag das walpurgisnachtmäßig wirken. Meine Stipendiaten, die dabei waren, haben mir das alles bestätigt.
Das bedeutet, dass der Beruf des Geigenbauers ein frustrierender Job ist: Er kann nur Rohlinge schaffen, die ihren Zauber erst nach Hunderten von Jahren entfalten?
Was ich als Musiker für die Ewigkeit hinterlasse, ist null. Das Meisterinstrument eines Geigenbauers kann die Musikwelt verändern. Das ist irre! Wie ein Landschaftsarchitekt, der einen Park anlegt. Es geht darum, der Zukunft etwas zu schenken.
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