Essen und Trinken: Milch!
Jahrhundertelang galt die Gleichung: Milch = Gesundheit. Heute wird sie verramscht – und Allergiker fürchten sie. Ein Report zum Welttag der Milch
Südliches Uralgebirge, mehr als 5000 Jahre v. Chr.: Einige Menschen der Jungsteinzeit kommen auf eine eigenartige Idee. Weil sie keine Lust mehr darauf haben, immer nur mit Wasser ihren Durst zu stillen, beschließen sie, es einmal mit der Milch von Rindern und Ziegen zu versuchen. Anfangs bereitet ihnen der weiße Saft etwas Bauchschmerzen, aber die legen sich bald – so oder so ähnlich muss die Erfolgstory der Milch einst begonnen haben.
Berlin, Prenzlauer Berg, Frühling 2010: „Ein Glas Milch hätte ich gerne.“ Die Kellnerin in der Kastanienallee schaut mich an, als ob ich direkt aus der Jungsteinzeit ins 21. Jahrhundert katapultiert worden wäre. „Wie Milch? Ohne Kaffee, nur Milch?“, fragt sie ungläubig. „Ja, nur Milch.“ – „Soll ich sie Ihnen zumindest warm machen?“ – „Nein, bloß nicht.“ „Wollen Sie Himbeersirup dazu?“ – „Nein.“ – „Zimt?“ – „Nein.“ – „Nicht doch lieber einen Cappuccino mit extra viel Schaum?“ – „Nein. Nein.“ Die Kellnerin tritt ab, Vögel zwitschern, die Sonne strahlt.
Seit Menschengedenken galt uns die Milch als Zaubertrunk, der unseren Körper mit Kalium versorgt, mit Magnesium und Jod, mit fettlöslichen Vitaminen und Kalzium. Knochen brauchen viel Kalzium, heißt es, das schützt vor Osteoporose. Milch, ein Wundermittel gegen Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfälle, Übergewicht. Sie war Sinnbild des Gesunden und Reinen. Im Alten Testament führt Gott Mose und die Israeliten ins Land, wo Milch und Honig fließen. Die alten Griechen waren überzeugt davon, dass ihre Götter durch Milch Unsterblichkeit erlangten. Jahrhunderte später, bei den Halbstarken der 1950er, wurde sie dann endgültig zum Kultgetränk. John Travolta tanzt auf den Tresen amerikanischer Milchbars mit Pomade in den Haaren und Schwung in den Hüften.
Milch schien zu unserem Leben dazuzugehören, wie die Luft zum Atmen. Wie der Euro zu Europa. Wie Michael Ballack zur Fußballnationalmannschaft. Das Einzige, worauf man sich verlassen konnte: dass ein Glas Milch dem Körper gut tut, der Seele auch. Am 1. Juni wird der „Internationale Tag der Milch“ gefeiert. Zumindest der Internationale Milchwirtschaftsverband tut das.
Aber jetzt mal ehrlich: Was, bitteschön, gibt es da noch zu feiern?
Die besten Tage des Milchkonsums sind gezählt. Einfach nur ein Glas Milch, das trinkt heute kaum noch wer. Immer mehr Menschen vertragen sie nicht, immer mehr Menschen vertrauen ihr nicht. Milch wird höchstens noch mit heißem Wasser zu Schaum gemixt und als Latte Macchiato oder Cappuccino-to-go verabreicht. Im Supermarkt wird sie verramscht, ein Liter kostet weniger als das Benutzen einer Autobahntoilette. Das war’s jetzt wohl mit der Erfolgsstory. Die Milch scheint heute denen, die sie überhaupt noch vertragen, nur noch gezuckert und gepudert und ordentlich gerührt zumutbar. Das stinknormale Glas Milch: ein Relikt vergangener Zeiten.
Dabei hat alles mal so gut angefangen. Milch, diese weißliche, undurchsichtige, emulgierte Flüssigkeit, hat unsere Nahrung, nein, unser ganzes Dasein, sogar unsere Sprache bereichert. Wir sagen „Gib Milch!“ und „Milchgesicht“. Wir wissen, dass die Kühe, die am lautesten brüllen, die wenigste Milch geben und dass es sich wegen vergossener Milch eh nicht zu weinen lohnt. Nachts starren verliebte Pärchen in die Milchstraße. Wer noch nie Herman’s Hermits „No Milk Today“ als Ohrwurm hatte, hat noch nie Radio gehört. „Milch macht müde Männer munter“, lautete der Marketingslogan. „Milch ist meine Stärke“, stand in milchfetten Lettern auf Litfaßsäulen. Yvonne Catterfeld, Miroslav Klose, Barbara Schöneberger, Sky du Mont und Katarina Witt schauten vom Plakat den Passanten milchtrunken entgegen. Tempi passati.
Längst sind die Milchgegner auf dem Vormarsch. Da gibt es welche, die bedauern einfach nur, dass die meiste Milch nicht mehr direkt vom Bauern kommt. Andere wettern auf Internetseiten wie „milchlos.de“ gegen den tierischen Nährstoff. Es sei ungesund und ekelhaft obendrein, die Säuglingskost von Rindern und Ziegen zu sich zu nehmen. Laut einer Studie soll Milch das Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, um 30 Prozent steigern. Laut einer anderen soll sie überhaupt nichts beitragen zur Erstarkung der Knochen. Und obendrein gibt es noch jene Studien, die behaupten, der Methanausstoß der Kühe würde die Erderwärmung beschleunigen. Weit schlimmer als das viele Kohlendioxid.
Professor Hans Hauner ist kein großer Freund dieser vielen Studien. Denn da gibt es solche und solche, da kann sich eh jeder raussuchen, was ihm gerade passt. „Fakt aber ist“, so der Ernährungsmediziner von der TU München, „für Erwachsene ist Milch nicht lebensnotwendig.“ Eigentlich ist der Homo sapiens nicht dazu gemacht, über das Babyalter hinaus Milch zu trinken, er kann auch ohne sie eine positive Nährstoffbilanz aufweisen. Die meisten Europäer sind erst im Laufe der Evolution und eher zufällig zu Milchtrinkern mutiert. Besonders in den frostigen Regionen der Erde, wo es im Winter nicht genug pflanzliche Nahrung gibt, haben sie sich vor Tausenden von Jahren durch Genveränderung an Milchprodukte gewöhnt.
Tatsächlich hat weltweit mehr als die Hälfte aller Menschen Probleme mit der Verdauung von Milchprodukten, in Teilen Asiens sind es oft über 90 Prozent der Bevölkerung – Tendenz steigend. Ihnen fehlt das Enzym Laktase, das von der Dünndarmschleimhaut gebildet wird und den Milchzucker aufspaltet. Wenn sie Milchprodukte zu sich nehmen, wird ihnen übel, sie bekommen Bauchkrämpfe, Kopfschmerzen, Sodbrennen und Durchfall. Diagnose: Laktoseintoleranz. Auch in Deutschland vertragen 15 Prozent der Menschen überhaupt keine Milchprodukte oder nur in sehr geringen Mengen. Zudem häufen sich die Fälle von Milcheiweiß-Allergien.
Jedes Jahr werden weltweit knapp 700 Millionen Tonnen Milch produziert. Knapp 30 Millionen Tonnen in Deutschland. Milch trinken ist zwar out, aber Milch versteckt sich überall: in der Pizza, im Salatdressing, in Senf und Ketchup, in Fischkonserven, in Tabletten und in der Zahnpasta. Die reine Milch, einst weißes Gold genannt, ist zu einer Zutat der Lebensmittelindustrie verkommen. „Selbst die Schulmilch ist vom Pausenhof verschwunden“, sagt Professor Hauner von der TU.
Ich stehe vor der Milchtheke im Supermarkt meines Vertrauens: Was es nicht alles gibt: Frischmilch (die laut Etikett wochenlang haltbar ist), Kuhmilch (garantiert biologisch, was immer das auch heißen mag) Acidophilus-Milch (mit probiotischen Kulturen, was immer das auch sein mag), H-Milch (ultrahocherhitzt, mit nur 0,3 Prozent Fett), Sojamilch (für Veganer), Buttermilch (mit bis zu 91 Prozent Wasseranteil), Dickmilch (mit einem Fettgehalt von bis zu 3,5 Prozent), Molke (sieht unappetitlich aus, soll aber schlank machen). Mir wird klar: Milch ist kein Lebensmittel mehr. Milch kaufen ist eine Grundhaltung. Ein Bekenntnis. Ich trinke Milch, ich stehe dazu. Und stehe ziemlich alleine da.
Es gibt da diese Geschichte, ein Bauer aus Südtirol hat sie mir mal erzählt. Da war eine Schulklasse aus der Stadt zu Besuch. Der Bauer führte sie in den Stall, um ihr zu zeigen, wie man Kühe melkt. „Bäääh, was ist das denn?“, sagte eines der Kinder, als es der Tatsache ins Auge sah, dass Milch von der Kuh kommt und nicht aus dem Supermarkt. Ein anderes musste sich fast übergeben. Es gibt noch Bauernhöfe, da kann man die Milch melkfrisch trinken und an ihrem Geschmack erkennen, ob die Kuh gerade auf der Weide graste oder im Stall stand. Es gibt auch Ställe, in denen es nicht einmal mehr nach Mist riecht, die aussehen wie High-Tech-Labore. Ställe, in denen Mozartmusik läuft, das soll – wieder so eine Studie – die Kühe beruhigen. Turbokühe mit Megaeutern, die nicht mehr Mitzi oder Berta heißen, sondern Nummern tragen.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist Milch ein industriell verarbeitetes Nahrungsmittel. Wärmebehandelt, homogenisiert, länger haltbar gemacht, das Milchfett in kleinste Kügelchen zerstückelt, durch Düsen geschleudert. Zugegeben, gesund klingt das wirklich nicht. Trotzdem, so Ernährungsmediziner Hauner, könne auch heute noch jeder, sofern er davon nicht Bauchschmerzen bekommt, ruhigen Gewissens ein Glas Milch genießen. Aber kann ich das wirklich noch? Oder wird sich nun, bewusst oder unterbewusst, selbst beim täglichen Glas das schlechte Gewissen melden?
Berlin, Prenzlauer Berg, Frühling 2010: „Was soll ich da denn jetzt verlangen?“, fragt die Kellnerin, als ich zahlen will. Dann verlangt sie einen Euro. Die Sonne scheint immer noch. Die Vögel zwitschern immer noch. Die Prenzlauerbergmenschen trinken Chai Latte mit Zimt und Himbeersirup.
Anruf beim Bauern aus Südtirol. Schulklassen kommen nur noch selten auf seinen Hof, sagt er. Die Mitzi hat gerade gekalbt. Die Berta gibt in diesem Jahr besonders viel Milch. Ja, auch er melkt schon lange nicht mehr von Hand. Das sei ihm zu anstrengend. Aber Mozartmusik, nein, das wolle er seinen Viechern nicht antun.
Der Bauer ist mittlerweile 71 Jahre alt. Seit seiner Jugend trinkt er einen Liter Milch am Tag. Manchmal die melkfrische. Manchmal die aus dem Supermarkt. Gesund oder ungesund, leben tut er noch.
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