Krimi: Wenn der Postmann zu oft klingelt
„Tatort“ verkehrt: Der Täter ist gleich bekannt. Aber warum ist der harmlose Postausträger Korthals zum Mörder geworden?
Das ist kein „Tatort“ von der Stange. Nach „Borowski und der stille Gast“ wird man an diesem Sonntag nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Vor allem nicht, wenn man allein lebt. Und besonders nicht als alleinstehende Frau. „Er ist in meiner Wohnung. Er ist hier. Er kommt einfach durch die Wand“, flüstert Carmen Kessler ins Telefon. Doch der Polizeinotruf kann ihr nicht mehr helfen, der Beamte muss hilflos ihren Schreien zuhören und der folgenden Stille. Dabei war das Opfer durchaus sicherheitsbewusst, ja fast überängstlich. Gleich zwei Stangenschlösser sicherten die Wohnungstür, selbst das Sondereinsatzkommando scheitert an diesem Hindernis. Erst über eine Leiter gelangt es durch ein Fenster in die Wohnung. Und muss selbst dafür schweres Gerät einsetzen, denn die Jalousien sind zusätzlich mit Vorhängeschlössern verriegelt. Kein Stoff für Menschen mit Angstpsychose, sogar Kommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) wird im Verlaufe dieses „Tatorts“ Nerven zeigen. Und seiner Assistentin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) gehen dieser Fall und der Täter noch näher.
Wer der Täter ist und was ihn antreibt, erfährt der Zuschauer früher, als ihm lieb sein kann. Mit Hingabe putzt sich Kai Korthals seine Zähne mit der Zahnbürste, die er kurz zuvor dem Zahnputzbecher seines Opfers entnommen und mit einer neuen ersetzt hat. Ganz dicht hält er ihre Turnschuhe an seine Nase, um nur ja kein Aroma zu verpassen, durchstöbert CD-Stapel und Bücherregale. Lars Eidinger, der seit vielen Jahren zum Ensemble der Berliner Schaubühne gehört und aktuell im Kinofilm „Was bleibt“ an der Seite von Corinna Harfouch zu sehen ist, gelingt der Wechsel vom harmlosen Postausträger zum psychopathischen Stalker, der im Affekt nicht aufhören kann, auf seine Opfer einzuschlagen, auf phänomenale Weise. Fast möchte man Korthals glauben, wenn er sagt, dass er „kein schlechter Mensch“ sei.
Drehbuchautor Sascha Arango, der mit dem „stillen Gast“ bereits den vierten Borowski-„Tatort“ vorlegt, arbeitet grundsätzlich nach diesem Prinzip – quasi dem Gegenstück zum klassischen „Whodunit“, bei dem es im Wesentlichen um die Frage geht, wie die Ermittler einen Täter finden und um wen es sich denn handelt. Sascha Arango konzentriert sich hingegen auf den Charakter des Täters. Er möchte seine Konflikte und Ängste kennenlernen. Im neuen „Tatort“ aus Kiel erfährt man jedoch vor allem, welche Ängste dieser Stalker bei seinen Opfern auslöst, sobald sie mitbekommen, dass jemand in ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung eingedrungen ist. Erst recht, wenn knarrende Türen oder huschende Schatten auf die direkte Anwesenheit eines Fremden hindeuten. Christian Alvart bringt diese Spannung besonders eindrucksvoll auf den Bildschirm. Alvart hat neben seiner Fernseherfahrung – darunter beim „Tatort: Borowski und der coole Hund“ – auch in Hollywood als Regisseur gearbeitet, unter anderem beim Kinofilm „Fall 39“ mit Renée Zellweger. Vom NDR erhielt Alvart die Erlaubnis, den Film so zu machen, „wie wir es für am besten hielten, und ihn nicht für die Leute zu inszenieren, die nicht aufpassen, weil sie beim Fernsehen noch andere Dinge tun“, wie Alvart sagt. Also: Hände weg von Smartphones, Tablet-PCs oder anderen Second Screens!
Auffällig ist, wie stark der Kieler „Tatort“ von Axel Milberg geprägt wird, das bezieht sich nicht nur auf den titelgebenden Namen. Ohne Milbergs Zustimmung läuft an der Förde nichts. Er hat sich dafür starkgemacht, die Figur der Sarah Brandt mit Sibel Kekilli zu besetzen. Sie soll in der Rolle der jungen, computeraffinen Assistentin speziell das jüngere Publikum ansprechen. Milberg achtet zudem sehr genau darauf, wie seine Rolle von den Autoren weiterentwickelt wird. Und er hat eine Mitsprache bei der Besetzung der Regisseure. Christian Alvart kommt damit gut klar. Milberg versuche keineswegs, die totale Kontrolle auszuüben, sagt er. Vielmehr suche er starke Partner, die ihn herausfordern und inspirieren. Zudem ist Axel Milberg selbst groß genug, um Sibel Kekilli mehr Platz im Kieler „Tatort“ einzuräumen. Bloß mit seinem störrischen Auto kommt er nicht mehr länger klar – und verpasst ihm den Gnadenschuss.
Im Film gerät nach Carmen Kessler die junge Prostituierte Roswitha (Peri Baumeister) ins Visier des Postausträgers. Auch in der Wohnung der drogenabhängigen Frau geht er ein und aus – und kümmert sich in ihrer Abwesenheit sogar um ihren vernachlässigten kleinen Jungen, spielt mit ihm und verwöhnt ihn mit Lutschern. Die Situation spitzt sich zu, als das Kind nicht mehr aufzufinden ist, obwohl doch die Wohnungstür verschlossen war. Borowski sieht den Zusammenhang zunächst nicht, Sarah Brandt spürt hingegen die Aura des perversen Stalkers.
Doch die Ermittlerin kämpft noch mit ganz anderen Problemen. Als sie Borowski von ihrem Verdacht zu überzeugen versucht, löst der Stress bei ihr einen epileptischen Anfall aus. Ihr Vorgesetzter und Mentor rät ihr, den Dienst zu quittieren, aber verraten wird er sie nicht. Wenn sie einwilligt, nicht mehr selbst am Steuer eines Autos Platz zu nehmen, und auch auf eine Waffe verzichtet. Dabei war sie gerade erst vollends angekommen im Kieler Kommissariat.
„Tatort: Borowski und der stille Gast“, ARD, 20 Uhr 15