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Stimmen des Exils: "Weniger Angst, mehr Schmerz"

Fünf Geschichten von ukrainischen Journalistinnen, die in verschiedenen Ländern Zuflucht gefunden haben: Eine Umfrage

Maria Grynevych hat vier ukrainische Kolleginnen zu ihrem Leben in ihrem Zufluchtsland befragt - und erzählt von ihrer eigenen Erfahrung.
Maria Grynevych hat vier ukrainische Kolleginnen zu ihrem Leben in ihrem Zufluchtsland befragt - und erzählt von ihrer eigenen Erfahrung.
© privat

Maria Grynevych, Chefredakteurin der ukrainischen Nachrichtenagentur Socportal.info, die nach Deutschland fliehen musste, befragte ihre Kolleginnen, die ebenfalls in fünf verschiedene Länder ausgewandert waren, warum sie gehen mussten und wie sich ihre Arbeit im Exil verändert hatte. Maria selbst erzählt auch, wie sie ausgewandert ist und wie ihr Medium jetzt funktioniert.

Maria, 34, Chefredakteurin der Nachrichtenagentur Socportal.info. Ausgewandert nach Deutschland

Ich bin wegen beruflicher Risiken nach Deutschland umgezogen. Jetzt versuche ich, die Arbeit der Redaktion im Exil zu organisieren, was nicht einfach ist, da alle Redakteure in verschiedene Länder ausgewandert sind.

Der Schwerpunkt unserer Arbeit hat sich geändert. Während wir früher über den sozialen Bereich geschrieben haben, indem wir spezielle Projekte über die Gesundheitsreform, über soziale Sicherheit der Menschen mit Behinderungen usw. umgesetzt haben, schreiben wir jetzt über das, was in unserem Land passiert - über den Krieg. Dennoch vergessen wir die Spezialisierung unseres Blattes nicht und schreiben über Ukrainer, die vor dem Krieg fliehen mussten, darunter auch Flüchtlinge mit Behinderungen.

Das Problem liegt darin, dass wir aufgrund des Krieges so gut wie alle Einkünfte verloren haben und nun mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Hoffentlich können wir sie überwinden und das Blatt weiterführen.

Katya, 34, Mitarbeiterin einer Online-Zeitschrift, 2 Kinder. Nach Tschechien ausgewandert

Der Hauptgrund für die Abreise ist die Angst um die Kinder. Wenn es eine sichere Möglichkeit gegeben hätte, sie mit einem Verwandten ins Ausland zu schicken, wäre ich vielleicht geblieben. Solche Möglichkeiten gab es aber nicht.

Ich arbeite jetzt an Geschichten über die Rettung aus dem Kriegsgebiet. Es wurden bereits Geschichten über Ärzte, Eisenbahner und andere Berufsgruppen veröffentlicht, die einen Großteil der Verteidigungskapazität der Ukraine gewährleisten.

Über Österreich (wo ich jetzt bin) habe ich in einem kurzen Bericht über die Aktion zur Unterstützung der Ukraine in Wien berichtet. Ich plane einen Beitrag über ukrainische Flüchtlinge.

Ich suche nach einem Nebenjob. Neben dem Hauptjob schreibe ich Berichte für andere Presseorgane. Ich habe mit der Redaktion von Eurozine Kontakt aufgenommen und mehrere Themen für mögliche Artikel vorgeschlagen.

Wie hat sich meine Wahrnehmung des Krieges verändert? Weniger Angst, mehr Schmerz. Wenn in der Ukraine die meisten Emotionen durch die Härte des Kriegsalltags und die Sorge um die Kinder blockiert waren, wird man sich in einer sicheren Umgebung des Schreckens der Geschehnisse stärker bewusst.

Anna, 45, Mitarbeiterin einer Online-Zeitschrift, hat eine Tochter. Nach Tschechien ausgewandert

Der Hauptgrund für die Ausreise ist die Sicherheit des Kindes. Ich persönlich war nicht bereit zu gehen, aber mein Kind wurde wegen der Sirenen sehr nervös. Die Stadt wurde grau und öde. Als ich auf die Straße hinausging, habe ich keine anderen Kinder gesehen. Ich wurde ständig vom Schuldgefühl gegenüber meinem Kind verfolgt — „Alle sind weggezogen und ich bleibe hier“.

Ich arbeite weiter. Aber ich bin wie betäubt. Ein Gefühl der Irrealität des Geschehens. Ich schreibe Nachrichten über den Krieg in der Ukraine und bin von jeder Tragödie sehr betroffen. Ich kommuniziere hier praktisch mit niemandem, die Sprachbarriere macht mir zu schaffen.

Hat sich die Wahrnehmung des Krieges seit dem Umzug verändert? Ja. Die Angst war weg, aber dafür kamen Schuldgefühle, ein Gefühl der Entfremdung von Ereignissen, an denen ich bereits teilgenommen hatte.

Olga, 31, Mitarbeiterin einer Online-Zeitschrift, hat eine Tochter. Ausgewandert nach Moldau

Ich bin aus Kiew nach Moldau am 8. März gekommen. Es war wahrscheinlich der erste 8. März in meinem Leben ohne Blumen und ohne festliche Tafel. Ich beschloss zu gehen, da ich befürchtete, dass der Ausreiseweg später blockiert werden würde, wie in Mariupol oder Irpen. Ich befürchtete auch, dass es keinen Strom geben würde, und ich brauche Strom für meine Arbeit, ich arbeite an der Website eines ukrainischen Presseorgans. So kam ich nach Moldau.

Warum Moldau? Ich habe nie ernsthaft an Emigration gedacht, und um ehrlich zu sein, habe ich keine Fremdsprachen studiert (ich habe für die ukrainischen Medien gearbeitet). Zu Hause war alles in bester Ordnung — ich hatte meine eigene Wohnung, eine Familie und einen Job, den ich liebte. Als die Zeit kam, darüber nachzudenken, wohin ich fliehen sollte, habe ich Polen nicht in Betracht gezogen, da die meisten Ukrainer dorthin flohen und die Menschen tagelang an der Grenze standen. Rumänien und Ungarn waren wegen der Sprachbarriere ausgeschlossen. Es blieb Moldau.

Wie ist Moldau? Das Land erinnert mich an Ukraine in den frühen 2000er Jahren - ärmlich, aber sauber und vor allem friedlich. Die Straßen sind schlecht, aber sauber. Und als ich am ersten Abend mit meiner Tochter durch Chisinau spazieren ging, ertappte ich mich beim Gedanken, wie wichtig es ist, auf friedlichen Straßen zu gehen - und dass mir das vorher nicht bewusst gewesen war.

Wie geht es weiter? Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass ich im Moment in die Ukraine nicht zurückkehren möchte. Selbst wenn die Kämpfe morgen aufhören.

Warum? Verminte Straßen. Ich kann und will mir nicht die verwüsteten ukrainischen Städte vorstellen, nicht die Menge von bewaffneten Menschen auf den Straßen. Das passt nicht zu meiner Erinnerung an die grüne, friedliche Ukraine. Ich habe immer noch eine Wohnung in Kiew, und ich weiß nicht, was daraus geworden ist, ob Plünderer sie ausgeraubt haben, ob eine Granate auf mein Haus fallen wird.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht, vielleicht bleibe ich vorerst in Moldau, aber im Moment geht es nur um die Legalisierung, um eine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ende des Krieges in der Ukraine. Und dafür braucht man eine offizielle Anstellung. Mir hat auch die Redakteurin eines kasachischen Presseorgans geschrieben. Es hat sich herausgestellt, dass Kasachstan viele freie Stellen für russischsprachige Journalisten hat. Derzeit wächst dort der IT-Sektor stark, es gibt eine ziemlich große ukrainische Diaspora und ganze Unternehmen aus Russland, die mit der Politik des Kremls nicht einverstanden sind, lassen sich dort nieder.

Auf jeden Fall ist mir klar, dass das, was jetzt passiert, eine wertvolle Erfahrung ist, ganz gleich, wie sich mein Leben in Zukunft entwickeln wird. Und wie man so sagt: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.

Christina, 31, Mitarbeiterin einer Online-Zeitschrift, 2 Kinder. Ausgewandert nach Polen

Ich habe in Erwägung gezogen zu bleiben, aber ich wohne in einem Stadtteil, der zu nahe am Kriegsgebiet liegt.

Als die benachbarten Stadtteile von Geschossen getroffen wurden, beschloss ich zu gehen. Die Entscheidung wurde sehr schnell getroffen, das Kofferpacken dauerte ein paar Stunden.

Die Mehrzahl der Themen sind jetzt Frontmeldungen, aktuelle soziale Nachrichten, Medizin und Gesundheit. In jüngster Zeit sind Nachrichten von Psychologen, Pädagogen und Ärzten hinzugekommen. Lifehacks für Menschen, wie man sich in dieser oder jener Situation verhält, wie man sich selbst in verschiedenen psychologischen Zuständen helfen kann, womit man Kinder in Bunkern, auf der Straße oder im Exil beschäftigt, mit begrenztem Zugang zu Spielzeug, Infrastruktur, Internet, Gadgets usw. Ich suche nach einem Nebenjob, manchmal auch nicht.

Manchmal findet sich ein Nebenjob ganz von selbst. Die Arbeitsmöglichkeiten sind generell begrenzt; viele ukrainische Medien haben Personal, Materialkosten und finanzielle Mittel so weit wie möglich gekürzt, so dass es nicht mehr so sehr darum geht, Nebenjobs zu finden, sondern um eine feste Anstellung.

Über Polen ist bereits alles gesagt worden, aber wir fügen noch einige spezielle Daten hinzu, teilen Tricks, Innovationen in der Gesetzgebung oder Informationen, die wir empirisch erhalten.

Hat sich Ihre Wahrnehmung des Krieges seit dem Umzug verändert? Nein. Das Einzige, was sich geändert hat: man hat jetzt das Gefühl der persönlichen Sicherheit. Der Krieg ist nicht weniger geworden, und er ist nicht viel weiter weg - Eltern, Freunde, Verwandte, Bekannte und Kollegen bleiben in der Ukraine.

Aus dem Russischen von Lingua World GmbH. Dieser Text erscheint im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber-Stiftung. Der Tagesspiegel hat seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist:innen unter dem Titel #jetztschreibenwir veröffentlicht. Die Körber-Stiftung führt Programme durch, mit denen die journalistischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland gestärkt werden. Dazu zählen Kooperationen mit den Nachrichtenplattformen "Amal, Berlin!" und "Amal, Hamburg!" Am 16./17. Mai 2022 findet in Hamburg das Exile Media Forum mit dem Young Exile Media Forum statt, die größte Fachkonferenz in Deutschland zum Exiljournalismus. Zum Livestream am 16. Mai geht es hier.

Maria Grynevych

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