Geniestreich mit Meret Becker und Mark Waschke: Warum der Berlin-Tatort so gut geworden ist
Permanent im Einsatz, permanent auf dem Sprung: Dem RBB ist mit seinem Tatort-Reload ein Geniestreich gelungen. Eine Zwischenbilanz.
Ein dienstliches Gespräch mit der Pathologin oder gleich mit ihr in die Kiste? Mutter sein und sich um den im Polizeidienst angeschossenen Sohn kümmern oder erst mal weiter ermitteln/arbeiten? Das ist der Jargon, das sind die zentralen Fragen im neuen Berlin-„Tatort“, dem neunten Fall des Ermittlergespanns Robert Karow (der mit der Pathologin) und Nina Rubin (die mit dem Sohn). Zeit zum Innehalten, Zeit für eine Zwischenbilanz: Wie hat es der RBB geschafft, seinem einst so verschnarchten Krimi in einer angeblich doch gar nicht so verschnarchten Stadt neues Leben einzuhauchen – und das mit mehr als ein, zwei provokativen Fragen?
Nicht nur, aber auch den Quoten nach ist das auf jeden Fall gelungen. Mit fast neun Millionen Zuschauern hat das Ermittlerteam Karow–Rubin die Vorgänger Dominic Raacke und Boris Aljinovic (Schnitt: 8,03 Millionen) deutlich hinter sich gelassen. Der Krimi hat sich einen gewissen Nimbus erarbeitet. Heute Abend mal wieder „Tatort“ mit Becker und Waschke? Klasse, guck’ ich.
Zugegeben, vielleicht ist es zu früh für eine Extrawürdigung. Vielleicht ist dieser Fall auch nicht der allerbeste. Die Geschichte (Drehbuch: Christoph Darnstädt; Regie: Christian von Castelberg) des Streifenbeamten Harald Stracke (Peter Trabner), dessen Kollegin bei einem Routineeinsatz im Kiez auf dubiose Weise erschossen wird.
Ein weiterer Zeuge, Kommissarin Rubins Sohn Tolja (Jonas Hämmerle), der ein Praktikum bei der Polizei absolviert, wird zum Schlüsselpunkt von Ermittlungen und Tätersuche im Drogenmilieu. Die Story knirscht an ein, zwei Stellen (dass Polizeipraktikanten auch auf Streife mitfahren, wirkt zunächst ungewöhnlich, ist in Berlin aber Praxis; warum aber bekommt der Zeuge Tolja nach der Tat nicht mehr Polizeischutz, wo dieser den Schützen doch wieder erkennen kann?).
Ohne zu viel zu verraten: Die Auflösung wird Svenja Flaßpöhler nicht gefallen, die, ausgehend von Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“, die Frage in den Raum gestellt hat, ob denn die „Tatort“-typische Psychologisierung und Personalisierung des Bösen (ein meist selbst traumatisierter Täter wird gefasst) in der heutigen Zeit nicht eine fundamentale Verfehlung der wahren, nämlich systemischen und damit gesichtslosen Ursache des Bösen bedeuten muss.
Traumatisierte Täter – ein allzu beliebtes Motiv im deutschen Krimi. In Berlin passt das. Das liegt nicht am Bösen, das hier nicht anders ist als in Stuttgart, Kiel oder Hannover, sondern vor allem auch an den beiden Ermittlern, ihrem exzentrischen Typus, der – und das kann man nicht bei jedem aktuellen „Tatort“ sagen, auch nicht bei dem viel gerühmten Exzentriker Faber (Jörg Hartmann) aus Dortmund – besonders eng mit dieser Stadt verwoben zu sein scheint.
Der stilistische und inhaltliche Pluralismus der bisherigen Ausgaben, vom Topos mal abgesehen, ist beachtlich. Angefangen mit den ersten vier in Serienmanier horizontal erzählten Folgen, die die Vorgeschichte Karows aufdeckten. Es folgten vier unterschiedliche, jeder auf seine Art bemerkenswerte „Tatort“-Krimis. Von der voltenreichen Geschichte um den Mord an einem schwulen Lehrer ("Amour fou") zum gesellschaftspolitisch aufgeladenen Stück über die Verfehlungen einer Kinderwunschklinik mit B-Movie-Touch („Dein Name sei Harbinger"), dem Experiment „Meta“, ein Film im Film auf vier Ebenen, das auf der Berlinale gedreht und mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, bis hin zu „Tiere in der Großstadt“ über KI und Robotik, fast ein Essay zum Thema Natur und Technik. Am Sonntag nun der Krimi über Drogenkriminalität, Kotti und überforderte Polizei, „4 Blocks“ lässt grüßen.
Weiterermitteln, in der Ermüdungsschleife
Das Ganze in einer Bildsprache, die dem nervösen Rhythmus der Großstadt ohne Manierismen gerecht wird. Auch wenn es nicht ohne Berlin-Klischees geht (die Stadt bleibt „arm, aber sexy“, der Polizist im Revier wird zum Aushilfsklempner, wenn der Abfluss streikt) – man kann nicht sagen, dass es sich der RBB mit diesem „Tatort“, der ja noch aus der Intendanten-Ära Reim stammt, einfach macht.
Gut vorstellbar, dass sich Regisseure und Autoren wie von Castelberg, Darnstädt, Roland Suso Richter oder Beate Langmaack um Berliner „Tatort“-Plots reißen.
Und man wird eben auch nicht sagen, dass Meret Becker und Mark Waschke, deren Figurenbeziehung sich von Geschichte zu Geschichte neu auszuloten scheint, Fehlbesetzungen sind. Kälter, unsympathischer als Robert Karow kann ein TV-Kommissar kaum sein. Er steht in der Beliebtheitsliste von tatort-fundus.de aber weit vor der Kollegin.
Das dürfte auch Rechtsmedizinerin Nasrin Resa (Maryam Zaree) wundern, der die Avancen ihres Kollegen in der neuen Folge allzu forsch, allzu eklig sind. Karows Reaktion auf ihr Fortbleiben deuten an, welches Potenzial noch in der Figur steckt.
Einzelgänger Karow, offen bisexuell lebend, mit seinem ausgeprägten Sinn für Ironie und absurden Humor steht irgendwo in der Schwebe zwischen dem Frankfurter Frank Steier (Joachim Król), abseitigster Ermittler der „Tatort“-Historie, der Melancholie des Esseners Haferkamp und dem Machismo eines Kressin oder Nick Tschiller.
Teamunfähig, ein Partisan im Polizeipräsidium. Kollegin Rubin variiert den Habitus von Steiers Kollegin Conny Mey (Nina Kunzendorf), die in hautengen Jeans und langen Stiefeln durchs Kommissariat stakste.
In Berlin muss sich die Alleinerziehende nach durchzechter Nacht um Sohn Tolja kümmern. Oder weiterermitteln, in der Ermüdungsschleife. Permanent im Einsatz, permanent auf dem Sprung. Und: Man siezt sich dabei. Anders als die „Tatort“-Kumpels in Köln oder München, die in ihrer Bräsigkeit, bei allen Verdiensten, schon oft auch ein bisschen drüber sind.
So abgeschmackt das klingen mag: Berlin rockt den „Tatort“. Was immer dieser Stadt an Authentizität zuzuschreiben ist – Rubin und Karow sind das Beste, was der Krimiserie, die sich dem Abbilden deutscher Wirklichkeit verschrieben hat, passieren kann. Das Beste für das oft gescholtene RBB-Fernsehen sowieso. Bleibt zu hoffen, dass Becker/Waschke nicht dem Beispiel eines Devid Striesow oder Aylin Tezel folgen. Die kehren dem „Tatort“ gerade den Rücken.
„Tatort – Der gute Weg“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Text-Fassung wurde in Frage gestellt, dass Polizeipraktikanten in Berlin auf Streife mitfahren. Das ist Praxis. Wir bitten um Entschuldigung.