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Jörg Schönenborn ist Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.
© WDR/Annika Fußwinkel

Interview mit Jörg Schönenborn: „Voreingenommen ist jede und jeder von uns“

WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn über „Hart aber fair“, Herausforderungen bei Linear-TV vs. Mediathek – und über „Haltung“.

Herr Schönenborn, was will der Westdeutsche Rundfunk, die größte Anstalt im ARD-Rund, 2022 besser machen als im Vorjahr?
Weiterhin beste Inhalte und viel klügere Verbreitung - das ist mein Kompass für dieses Jahr. Bei den guten oder manchmal besten Inhalten hatten wir schon immer was zu bieten. Die beiden erfolgreichsten "Tatort"-Reihen Münster und Köln feiern mit starken Filmen 20. und 25. Geburtstag.

Wir haben Pläne mit Carolin Kebekus, Eckart von Hirschhausen und anderen. Unsere Nachrichtenmarken "Tagesschau" und "WDR aktuell" schlagen immer tiefer Wurzeln bei den Jüngeren. Das gelingt uns mit neuen digitalen Formaten wie dem TikTok-Kanal "nicetoknow", der übrigens in Zusammenarbeit mit einer Schulklasse entsteht. Ich möchte, dass wir 2022 unser Informationsangebot für diejenigen weiter stärken, die wir mit klassischen öffentlich-rechtlichen Nachrichten nicht mehr gut erreichen. Also, bei den Inhalten läuft vieles gut.

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Und wo läuft es weniger gut?
Bei der digitalen Verbreitung wollen wir noch besser werden. Dazu gehört der Umgang mit Nutzungsdaten, damit wir im Netz das Publikum überall erreichen. In der digitalen Welt können sonst beste Inhalte komplett verhallen. Deshalb habe ich mich in der ARD sehr für das Thema engagiert. Manche hat gewundert, dass sich ein Programmmacher um "Metadaten" und "Künstliche Intelligenz" kümmert. Aber mir war wichtig, Verständnis dafür zu schaffen.

Ich kenne die Sorge, dass Daten Programmentscheidungen vorwegnehmen könnten, dass nicht mehr nach journalistischen Kriterien entschieden wird. Aber es geht im Gegenteil um dateninformiertes Arbeiten. Wer entscheidet, muss die Gewohnheiten und Interessen kennen. Sonst schaffen wir es nicht mehr, ein digitales Angebot für alle zu machen. Jetzt startet im WDR ein Team, das sich auch für die ARD darum kümmern wird. Am Ende soll eine Art öffentlich-rechtlicher Algorithmus für die Mediathek stehen.

Was meinen Sie damit?
Ich möchte eine intelligente Empfehlungslogik, die nicht immer nur Vertrautes und Bekanntes vorschlägt, sondern den Horizont erweitert, auch mal vorschlägt, was ich selbst nicht ausgesucht hätte, was anstrengt oder irritiert. Die Algorithmen der amerikanischen Plattformen fangen das Publikum in Blasen.

Unser öffentlich-rechtlicher Auftrag ist es, diese Blasen platzen zu lassen. Das geht nur, wenn wir auf unserer eigenen Plattform bestimmen können, was gefunden und empfohlen wird. Nur dann hat das Publikum eine Chance auf das ganze Bild. Deshalb möchte ich das Thema in der ARD weiter vorantreiben.

Viele in Deutschland sorgen sich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, um eine Gesellschaft, die sich in der Frage von Impfen oder Nichtimpfen spaltet. Was können die Medien wirklich tun, um das Auseinanderdriften in ein Aufeinanderzugehen zu verwandeln?
Diese Sorge treibt mich auch um. Zum Glück haben wir in unserem Land, gerade im Öffentlich-Rechtlichen, weiterhin Programmangebote, die auf beiden Seiten des Grabens genutzt werden. Wir erreichen als WDR und als ARD weiterhin fast alle in der Gesellschaft. Das unterscheidet uns etwa von den USA, wo die Öffentlichkeit genauso gespalten ist wie die Gesellschaft und Lügen dann einfach "alternative Fakten" heißen. Unsere große Chance ist, den Austausch von Argumenten zu organisieren. Wohlgemerkt von Argumenten, nicht von Meinungen.

Man kann sich tagelang gegenseitig erzählen, dass man für oder gegen das Impfen ist. Das bringt niemanden weiter. Unsere Rolle ist es, Argumente einzufordern und diese mit allen zur Verfügung stehenden Fakten abzugleichen. Gerade beim Impfen erleben wir ja, dass Überzeugen durch Argumente zwar mühsam aber möglich ist.

"Beste Inhalte" heißt für mich auch, immer wieder die Bruchlinien der Gesellschaft zu zeigen, Argumente abzuklopfen und die Ursachen zu analysieren. Ich bin fest davon überzeugt, so kann man die Gesellschaft zusammenhalten.

Das bevorzugte Gesprächsformat des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist die Talkshow. Reicht das oder müssen neue Formate gefunden werden?
Ist das Ihr Eindruck? Wir pflegen nach meinem Eindruck viel stärker als früher die Form des längeren Interviews: im Morgenmagazin, in den Tagesthemen oder im WDR in der Aktuellen Stunde. Das ist oft exzellent. Und bei Sandra Maischberger steht jetzt im Zentrum der Sendung ein langes Gespräch, zuhörend, nachfragend, manchmal bohrend. Das Gespräch mit Armin Laschet über eine halbe Stunde hat mich berührt. Aber Sie haben recht, die Talkshow ist sehr populär in Teilen des Publikums. Dort passiert im besten Fall das, was ich eben beschrieben habe. Argumente werden ausgetauscht und gelegentlich Brücken gebaut.

"Hart aber fair" steht vor seiner 500. Ausgabe. Eine lange Wegstrecke ist absolviert worden. Was hat "Haf" erreicht, was nur dieses Format erreichen konnte?
"Hart aber fair" war damals die Perspektive aus der Provinz. Talksendungen hießen so, wie ihr Horizont: Berlin-Mitte. Sie fanden unter Kuppeln statt, im geschlossenen Raum. "Hart aber fair" hatte im WDR-Fernsehen gezeigt, dass es anders geht. Hier saßen nicht nur Politiker und Experten - ja, damals meist Männer - sondern Menschen mit am Tisch, die von den Problemen selbst betroffen waren. Einspielfilme brachten Bilder aus der Wirklichkeit. Und Reaktionen des Publikums waren nicht lästig, sondern erwünscht und fester Teil der Sendung.

„Hart aber fair“, das heißt mit dem heutigen Montag: 500 Sendungen, mehr als 2500 Gäste – aber immer nur ein Moderator: Frank Plasberg. Die erste „Haf“-Ausgabe lief im Ersten am Ersten: 24. Oktober 2007, nachdem der Talk am 31. Januar 2001 im WDR-Fernsehen gestartet war. Die Akzeptanz beim Publikum kann sich sehen lassen: 2021 hat die Sendung durchschnittlich knapp drei Millionen Menschen erreicht, bei einem Marktanteil von 10,2 Prozent. Moderator Frank Plasberg ist vielfach ausgezeichnet worden, so mit dem Grimme-Preis und dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.
„Hart aber fair“, das heißt mit dem heutigen Montag: 500 Sendungen, mehr als 2500 Gäste – aber immer nur ein Moderator: Frank Plasberg. Die erste „Haf“-Ausgabe lief im Ersten am Ersten: 24. Oktober 2007, nachdem der Talk am 31. Januar 2001 im WDR-Fernsehen gestartet war. Die Akzeptanz beim Publikum kann sich sehen lassen: 2021 hat die Sendung durchschnittlich knapp drei Millionen Menschen erreicht, bei einem Marktanteil von 10,2 Prozent. Moderator Frank Plasberg ist vielfach ausgezeichnet worden, so mit dem Grimme-Preis und dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.
© WDR/Stephan Pick

Das Wichtigste aber: "Hart aber fair" hat sich den Blick aus der "Provinz" auf die Hauptstadtpolitik geleistet und nicht nur Selbstbespiegelung. Ich weiß übrigens noch gut, wie sehr sich Frank Plasberg geärgert hat, als die anderen nach und nach Elemente wie die Filme übernommen haben. Aber kopiert zu werden, ist eben auch ein Kompliment.

Anne Will" läuft seit 2007, "Maischberger" seit 2003, "Hart aber fair" seit 2001, "Maybrit Illner" seit 1999. Wo bleibt die Innovation, wo der Aufbruch?
War das WDR-Format "Freitag Nacht Jews" mit den Gesprächen am Esstisch über jüdisches Leben nicht eine Innovation? Und selbstverständlich entwickeln wir weitere Talkformate fürs Digitale, die auch Jüngere ganz anders ansprechen. Im Fernsehen ist es auch eine Stärke, wenn man über Jahrzehnte Teil der Sehgewohnheiten ist.

Der "Frühschoppen", der heute "Presseclub" heißt, ist gerade 70 geworden, die "Tagesschau" wird noch 70, der "Tatort" ist über 50, hart aber fair 21. Nichts davon sieht heute aus wie am ersten Tag. Maischberger hat ein neues sehr erfolgreiches Konzept. hart aber fair bestand in wichtigen Phasen der Pandemie weitgehend aus Fragen des Publikums, längeren Reportagen und Info-Blöcken. Die Sendung war immer wandlungsfähig.

Im Ersten tut sich einiges, so startet der "Weltspiegel" am Sonntag künftig um 18 Uhr 30 statt um 19 Uhr 20. Stechen aus dem Reformpaket noch gewaltigere Novitäten heraus?
Ich habe mich in der Reformdebatte neben dem Ausland vor allem um die Wissenschaft gekümmert. Da bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten zurück. Redaktionen wie "Quarks" vom WDR haben tolle Wissensangebote in ihren eigenen Kanälen, oft starke Dokus. Diesen Schritt gehen wir jetzt in der ARD.

Wir schaffen ein gemeinsames starkes Wissensangebot in Form von Dokureihen, die ganz sicher ihr - auch jüngeres - Publikum finden werden. Wir entwickeln uns als ARD zum Contentnetzwerk. Mediathek und lineares Programm sind zum Spiel über zwei Flügel geworden.

Mehr denn je werden die Sender zwei Welten bespielen müssen: die lineare mit Programm nach Schema und die gestreamte in den Mediatheken. Welches Angebot gehört wohin?
Das ist der Schlüssel zum Erfolg: das richtige Angebot im richtigen Kanal zu verbreiten. Am liebsten holen wir sie alle in die Mediathek, aber viele werden unsere Angebote weiterhin in den sozialen Medien erwarten. Gute Verbreitung ist ein Konzert aller Wege, die uns zur Verfügung stehen. Dabei ist und bleibt die ARD-Mediathek unser größtes Schaufenster mit mehr Inhalten als jede andere Plattform. Denn dort sind die Grenzen zwischen erstem und dritten Programmen, zwischen regionalen und nationalen Angeboten komplett aufgebrochen.

Aktuell beliebt auf Tagesspiegel Plus:

Eine Doku-Reihe wie "Feuer und Flamme" über die Feuerwehr in Bochum stammt aus dem WDR-Fernsehen und ist plötzlich Aufmacher in der nationalen Mediathek. Niemand hat ein so tiefes und vielfältiges Angebot aus den Regionen wie die ARD. Das werden wir noch stärker herausstellen, als Beitrag zum föderalen Zusammenhalt.

Die ARD Mediathek konkurriert mit Streamingdiensten wie Netflix oder Amazon-Prime - kann eine deutsche öffentlich-rechtliche Plattform mit diesen Wettbewerbern mithalten?
Wir haben bei der Mediathek zu allererst auf die Fiktion gesetzt, das für Plattformen prägende Genre. Als Koordinator für diesen Bereich habe ich 2018 angeschoben, einen Teil der klassischen Fernsehfilme umzuwandeln in Miniserien und Mehrteiler. Das war eine grundlegende Weichenstellung.

So hatten wir zum Start der neuen Mediathek 2020 die Kraft zu einer starken Serienoffensive. "Oktoberfest 1900", "Unsere wunderbaren" Jahre und "Das Geheimnis des Totenwalds" gehörten zu den ersten Ten-Million-Sellern, was die Abrufe angeht. Jetzt müssen wir mit Dokus nachziehen. Da haben wir in der ARD eine große Vielfalt an Produktionen, die oft noch zu sehr fürs lineare Fernsehen gedacht sind. Das ändern wir gerade.

Ist es für Sie vorstellbar, dass die ARD auf die übliche Übertragung der Olympischen Winterspiele in Peking und der Fußball-WM in Katar verzichtet?
Nirgendwo haben Sie in den letzten Jahren so viele gut recherchierte Berichte über die Skandalbaustellen in Katar oder über die Totalkontrolle in China sehen und hören können wie bei uns. Das Investigative ist eine Stärke der ARD und gerade wir im WDR haben mit "Sport inside" einst eigens ein Format für solche Themen geschaffen.

Wenn Sie zurecht danach fragen, welche Legitimation diese Turniere haben, ist das auch Folge unserer Berichterstattung. Deshalb werden wir beides tun: über die Wettkämpfe berichten, weil Millionen Menschen quer durch die gesamte Gesellschaft dies sehen wollen und das für ihren Rundfunkbeitrag auch erwarten. Und das ganze sehr kritisch begleiten.

Aber klar ist auch: IOC und Fifa müssen ihren Weg ändern, sonst werden sie die gesellschaftliche Akzeptanz für ihre Veranstaltungen verlieren.

Womit wir beim "Haltungsjournalismus" angelangt wären. Ein Kampfbegriff für Sie?
Wenn mit Haltung gemeint ist, Argumente, Perspektiven, Gesprächspartner nach der persönlichen Meinung auszuwählen, dem Publikum aber Unvoreingenommenheit vorzugaukeln, wird das Wort Haltung missbraucht. Nach meiner Wahrnehmung ist aber die Sensibilität für Voreingenommenheit in den letzten Jahren gewachsen. Voreingenommen ist letztlich jede und jeder von uns. Journalismus ist die Profession, dies zu erkennen und bei der Arbeit auszublenden.

Nach Antisemitismus-Vorwürfen trennte sich der Westdeutsche Rundfunk (WDR) von der Journalistin Nemi El-Hassan.
Nach Antisemitismus-Vorwürfen trennte sich der Westdeutsche Rundfunk (WDR) von der Journalistin Nemi El-Hassan.
© dpa

Der Fall Nemi El-Hassan im Rückblick betrachtet: Was hat der Sender falsch gemacht, welche Schlüsse sind daraus gezogen worden?
Jede Journalistin und jeder Journalist kann daraus etwas lernen. Wer in den sozialen Medien privat postet, befindet sich immer in einem öffentlichen Raum. Alles was man privat schreibt, kann Rückwirkung auf die journalistische Arbeit haben. Und mit Löschen ist vieles eben nicht aus der Welt. Man sollte, bevor man postet, überlegen, ob eindeutig ist, was man sagen will. Ob man das Gesagte wirklich so meint. Und ob man auch später noch dazu stehen kann.

Wir als WDR lernen daraus, dass wir vor einer möglichen Zusammenarbeit noch intensiver miteinander sprechen müssen. Am Ende müssen wir aber auch auf das vertrauen können, was uns gesagt wird. Das war in diesem Fall leider nicht in allen Punkten so. Betroffen gemacht haben mich die hasserfüllten Angriffe auf Nemi El-Hassan. So geht man nicht miteinander um.

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