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TV-Film "Das Venedig-Prinzip": Vom Tourismus überflutet

Der Dokumentarfilm „Das Venedig-Prinzip“ sieht die Enturbanisierung der Lagunenstadt voraus. Andreas Pichler lässt in seinem Film die Bilder und Bewohner sprechen.

Vierhundert Jahre hat der Mörtel in den auf Holzpfählen ruhenden Grundmauern der Palazzi Wasser und Wind standgehalten. Der Zement, mit dem man heute die Schäden saniert, dürfte in wenigen Jahrzehnten zerfallen, weiß der Immobilienmakler, der dies aber seinen Klienten nicht sagt. Die meisten wollen das auch gar nicht so genau wissen, wenn sie eine Geldanlage suchen und einen repräsentativen Platz, um darin zumindest jährlich zur Weihnachtszeit zu residieren. Ebenso ziehen es die Touristen, die von morgens bis abends in dichten Scharen über den Markusplatz, die Rialtobrücke und ein paar Gassen ziehen, in der Mehrzahl vor, einer Disneyland-Stimmung nachzuhängen, als sich über den wahren Zustand der Lagunenstadt Gedanken zu machen, wenn sie aufs Kreuzfahrtschiff oder zum Bus zurückkehren.

Andreas Pichler, dem mit seinem Dokumentarfilm „Das Venedig-Prinzip“ ein großer Wurf gelang, lässt Bewohner und Bilder sprechen, ohne sich einzumischen, sieht man von den wie Headlines eingeschobenen Sequenzen ab. Er schwelgt auch nicht in Erinnerungen an Glanz und Größe der Stadt, als noch erlesene Geister wie Richard Wagner oder Thomas Mann darin nach Inspiration suchten. Wichtiger scheint ihm ein kleiner Umzugsunternehmer, der über hundert Wohnungen ausgeräumt hat, denn immer mehr Einwohner müssen vor den horrenden Mieten in das sich vergrößernde Mestre oder andere Städte auf dem Festland fliehen und Platz für neue „Bed & Breakfast“-Unterkünfte machen. Als standhaft gegen die touristische Überflutung erweist sich ein pensionierter Gondoliere, der von illustren Gästen und Filmaufnahmen mit seinem Boot erzählt, sowie eine kunstsinnige alte Dame, die das Parterre ihres Hauses freilich vermieten muss.

So wenig Einwohner hatte Venedig schon einmal - nach der Pest

Der Regisseur ist ein guter Zuhörer und aufmerksamer Beobachter, der genau den richtigen Moment abpasst, wenn wieder ein Kreuzfahrt-Riese durch den Canal Grande gleitet oder ein Lindwurm von Touristen den Weg vollständig versperrt. Sechzigtausend Besucher kommen täglich in diese Stadt, die nur noch achtundfünfzigtausend Einwohner zählt, Tendenz abnehmend. So viele waren es schon einmal: nach der großen Pest im Jahr 1438. Ist die Tourismus-Industrie etwa die neue Pest? Oder trägt nicht vielmehr eine bestimmte Art der Vermarktung die Hauptschuld daran, dass die Mieten ins Unermessliche steigen, die Infrastruktur ausgedünnt wird und der berühmte Ort zur Schlafstadt verkommt, für deren Sanierung kein Geld da ist?

Wie ein Sinnbild des waltenden Zeitgeistes erlebt man im Film den „Ball des Dogen“, wo die zahlungskräftigen Gäste in geliehenen historischen Kostüme auftreten, so wie diese ganze Stadt ein Kostüm für Selbsttäuschungen und Geschäfte dazu hergibt, während sie, wohl gerade deshalb, ihr Eigenleben mehr und mehr verliert. Der klug gewählte Titel „Das Venedig-Prinzip“ enthält einen berechtigten Denkanstoß: Geht es hier allein noch um Venedig? Hans-Jörg Rother

„Das Venedig-Prinzip“, ARD, Dienstag um 22 Uhr 45

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