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Die Jury des Deutschen Reporterpreises tagt im Berliner Soho-House und kürt am Ende die Sieger in neun Kategorien.
© Reporter-Forum/Amin Akhtar

Schöner Schreiben: Vom Penis zur Prosa

Wann ist ein Text ausgezeichnet? Darüber diskutiert die Jury beim Reporterpreis. Und streitet sich heftig.

Busen ja, Busen sind überall, aber Vaginas, nein, die zeige ja nicht mal der „Playboy“ und wieso, bitte, ist eine entblößte Männerbrust kein sexualisiertes Objekt? Sascha Lobo, der Mann mit dem roten Irokesenschnitt, sitzt an der Ecke eines großen Holztisches im Soho-House an der Torstraße in Berlin und redet sich in Rage über Elisabeth Raethers Essay „Das ist übrigens ein Penis“ aus dem „Zeit Magazin“, in dem sie nach Lobos Ansicht am Problem „vorbeischrammt“, wenn sie behauptet, dass weibliche Nacktheit der Normalfall ist, männliche hingegen nicht. „Ich hab das jetzt eher so atmosphärisch gelesen“, sagt Verleger und Schriftsteller Michael Krüger und findet den Beitrag gar nicht schlecht. Die Stimmen für Raether reichen nicht, der Text ist raus, bleiben zwei Finalisten.

Nur einen Nachmittag haben Lobo, Krüger und die anderen 20 Mitglieder der Jury an diesem Montag Zeit, um die besten journalistischen Arbeiten auszumachen, die für den Deutschen Reporterpreis 2012 eingereicht wurden. Er wird vom Reporter-Forum verliehen, einem Verein, der 2007 von Journalisten für Journalisten gegründet wurde, um das journalistische Erzählen zu fördern. Regelmäßig wird in Workshops diskutiert und an Texten gearbeitet. Seit 2009 gibt es den „Deutschen Reporterpreis“.

1048 Texte sind in diesem Jahr für die neun Preiskategorien eingereicht worden. Alleine über den „besten Essay“ wird die Hauptjury zwei Stunden diskutieren und wer als Zuschauer dabei ist, erlebt hier weder „Hamburg Mafia“ noch „Frankfurt Connection“, also die Chefredakteure großer Magazine und Zeitungen, von denen es heißt, dass sie sich bei anderen Journalistenpreisen die Auszeichnungen gegenseitig zuschachern würden. Sondern der erlebt, wie leidenschaftlich über das gestritten wird, was vor dem Hintergrund der insolventen „Frankfurter Rundschau“ und des Endes der „Financial Times Deutschland“ immer hochgehalten wird: der Qualitätsjournalismus. Der überlebt, heißt es in den Texten zur Krise oft in einem Halbsatz, bevor es dann lang und breit darum geht, bis wann Zeitungen noch auf Papier gedruckt werden, was gegen sinkende Anzeigenerlöse getan werden kann und warum Googlefacebookappleamazon so böse sind. Doch was das überhaupt ist, Qualität im Journalismus, das wird in diesen Tagen öffentlich wenig diskutiert, obwohl es doch genau darum am Ende geht. Nur wenn ein Text Leser packt, werden sie bereit sein, dafür zu zahlen – egal ob am Kiosk oder per Klick auf der Website. Aber ist handwerklich alles erlaubt, damit das gelingt?

Auf der Website des Reporter-Forums durften Leser vorab über die „Beste Reportage“ abstimmen. Sie entschieden sich für Erwin Koch mit „Sarah“, ein Text über ein Mädchen, das an Leukämie erkrankt – die Jury schließt den Text sofort aus. „Die Geschichte stinkt“, sagt Juror und „Spiegel“-Journalist Ullrich Fichtner. Koch schreibe, als ob er tage- und nächtelang neben dem Mädchen im Krankenhaus gelegen habe, was nicht möglich gewesen sein könne. „Das ist Literatur und kein Journalismus“, sagt Fichter, da gebe es einen entscheidenden Unterschied: „Journalismus muss stimmen“. „Wie ist es dann möglich, einen solchen Text abzufassen, wenn die Regeln so klar sind?“, wundert sich Regisseurin Doris Dörrie. Doch so klar sind die Regeln offenbar nicht. Auch nicht fast zwei Jahre, nachdem „Spiegel“-Autor René Pfister der Nannen-Preis aberkannt wurde, weil er bei einem Seehofer-Porträt eine Szene so beschrieb, als ob er dabei gewesen wäre, und nur wenige Monate, nachdem Heribert Prantl von der „Süddeutschen“ für einen ähnlichen Fall in die Kritik geriet.

Jeder Reporter sei darauf angewiesen, Szenen zu rekonstruieren, sagt Fichtner, „wichtig ist dabei aber immer, dass diese Szenen dann entsprechend gekennzeichnet werden, um das Vertrauen der Leser zu halten.“ Doch was ist mit Fällen wie Koch, der offensichtlich so viele Leser mit seinem Stück gepackt hat? „Vielleicht sollte künftig die neue Kategorie ,Literarischer Journalismus‘ mitaufgenommen werden?“, schlägt Verlegerin Antje Kunstmann vor, erhält jedoch wenig Zuspruch. Entweder oder, Journalismus oder Kunst.

Ins Finale für die „Beste Reportage“ kommen zwei Texte: „Spiegel“-Redakteur Takis Würger, der für seinen Text „Das verlorene Bataillon“ drei Wochen lang bei der Bundeswehr in Afghanistan verbrachte und von einem Scharfschützen erzählt, der noch keinen Schuss abgegeben hat, sich aber nichts sehnlicher wünscht. Und „Zeit“-Journalist Wolfgang Bauer, der in seiner Reportage „Der Tod kommt von oben“ über die Kämpfe im syrischen Aleppo schreibt. Nach zwei Stunden steht es 5:3 für Würger. Er schaffe es, den Leser so zu packen, dass sich dieser am Ende fast wünsche, dass der Soldat doch endlich einmal jemanden erschießen dürfe. Noch knapper geht es im Raum nebenan zu. 4:4 steht es nach der ersten Abstimmung um den „besten Essay“, im Rennen sind „Spiegel“-Autor Dirk Kurbjuweit mit einem Merkel-Stück und Sabine Rennefanz von der „Berliner Zeitung“ mit einem Text über ihre Orientierungslosigkeit nach dem Mauerfall. So nah wie Kurbjuweit sei kein anderer Journalist der Kanzlerin gekommen, er schreibe dazu stilistisch perfekt, so die einen. Rennefanz habe sehr persönlich die Parallelen zwischen ihrer Orientierungslosigkeit und der des gleichaltrigen, rechtsextremen Uwe Mundlos geschildert, so die anderen. Neue Abstimmung, 5:5. Am Ende wird der Preis geteilt. Doppelte Freude.

Sonja Pohlmann

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