Kieler "Tatort": Verschwörung um Barschel
25 Jahre danach: Der Kieler „Tatort“ wagt sich an den Fall Uwe Barschel heran. Die große Frage, auch nach einem Vierteljahrhundert: War es Mord oder Selbstmord? Geschickt verweben die Macher des Tatorts Realität und Fiktion. Und wagen auch ein wenig Unwahrscheinlichkeit.
Was geschah in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober auf Zimmer 317 des Genfer Hotels „Beau Rivage“? In der Badewanne liegt ein toter, voll bekleideter Politiker: Uwe Barschel, kurz zuvor zurückgetretener Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Die rechte Hand, die aus dem Wasser ragt, ist mit einem Handtuch umwickelt. Darauf lehnt Barschels Kopf. Im Zimmer verstreut: ein zerbrochenes Weinglas, ein verrutschter Vorleger mit einem Schuhabdruck.
Ein „stern“-Reporter findet die Leiche. Todesursache: offenbar ein Medikamentencocktail. Ob da jemand nachgeholfen hat? Das ist auch 25 Jahre danach immer noch nicht geklärt. Es ranken sich Mythen und Verschwörungstheorien um diese Geschichte. Seltsam, dass sich Deutschlands bekannteste Krimimarke so lange Zeit gelassen hat, um Ausschau nach potenziellen Tätern zu halten.
Wie sagt Kommissar Borowski: „Politiker würden die besten Mörder abgeben. Sie haben ein dickes Fell, wenig Kontakt zu ihren Gefühlen und einen vertrauten Umgang mit der Unwahrheit.“
Ein NDR-„Tatort“ also vor dem Hintergrund des Falles Barschels. Da darf das berühmte Foto vom toten Politiker in der Wanne nicht fehlen. Sogar ein vermeintlich historisches Video im Dogmastil taucht auf, darauf schwarz-weiße Bilder aus dem Zimmer 317, die offenbar zwischen Barschels Tod und der Entdeckung durch den „stern“-Reporter aufgenommen worden sind. Macher des Videos, und hier beginnt die Fiktion, ist der schwule Kieler Unternehmer und Autor Dirk Sauerland. Dieser wird tot aufgefunden. Offenbar hat er in den letzten Monaten an einer spektakulären Enthüllungsgeschichte gearbeitet, die weit in die 1980er Jahre hineinreicht…
Schnell wird klar, es geht diesem „Tatort“, dem NDR, nicht um die Aufklärung des Falles Barschel. Kann es auch gar nicht. Bei der Drehbuchentwicklung musste strengstens beachtet werden, dass eine Person der Zeitgeschichte Persönlichkeitsschutz genießt. Es dürfen im fiktionalen Film keine Behauptungen aufgestellt werden, die nicht belegt werden können, etwa, indem man eine Person ohne Beweise mit einem Verbrechen in Verbindung bringt. Es gibt juristische Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen.
Hier waren keine Journalisten unterwegs, die neue Fakten recherchiert haben, sondern Autoren, die sich bei aller dichterischen Freiheit an die Fakten halten müssen – fachlich unterstützt von einem Kriminaldirektor, einem Barschel-Experten, angeheizt von Nachrichten über neueste Technologien, die es möglich machen sollen, DNA-Spuren an Barschels Kleidung zu identifizieren. Der Fall kommt nicht zur Ruhe.
Keine leichte Aufgabe für Krimiroutinier Eoin Moore, der für Regie und Buch verantwortlich zeichnet, nach einer Idee von Fred Breinersdorfer. War es Mord oder Freitod? Hatte Uwe Barschel sich wegen der „Waterkantgate“-Affäre das Leben genommen? War er in Waffengeschäfte mit dem Iran oder Israel verwickelt? Haben ihn Geheimdienste umgebracht? All diese Fragen sind, freilich ohne letzte Antworten, in „Borowski und der freie Fall“, verwoben. Alleine das macht diesen „Tatort“ so außergewöhnlich. Außergewöhnlich gut.
Genauso gut wie das Gespann Kommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und Assistentin Sarah Brandt (Sibel Kekilli), das es wohl nie zur Beliebtheit des Münsteraner oder Hannoveraner „Tatort“-Teams bringen wird. Dafür ist dieser Einzelgänger Borowski, der Schweiger in seinem roten Schweden-Auto, nicht volksnah genug. Auch wenn ihm der beziehungsgestresste Chef zur Auflockerung in die Wohnung gesetzt wird.
Dazu die Neue. Das erste Kieler Ermittlergespann Borowski-Frieda Jung (Maren Eggert) war schon klasse. Die famose Sibel Kekilli gibt sich nun an Milbergs Seite gar nicht erst groß Mühe, die Polizeipsychologin Jung/Eggert zu kopieren. Im vierten gemeinsamen Fall Borowski & Brandt ist genug Raum für die eine oder andere Frotzelei zwischen dem coolen Alten mit dem trockenen Humor, der beim Telefonabnehmen „Ich höre?“ sagt, und der temperamentvollen Neuen, die sich so ihre eigenen Gedanken zum Tode Sauerlands und Barschels macht.
Stichwort Verschwörungstheorien. Immer reizvoll für Filmemacher, öfters auch schon für einen „Tatort“, früher bei „Schimanski“, jüngst bei Kommissarin Lindholm in Hannover.
Zurück zu Barschel. Zum Krimiplot. Borowski und Brandt werden nachts zu einer Segelyacht geholt. Mit einer Flasche wurde jenem schwulen Unternehmer Sauerland auf den Kopf geschlagen. Der Politiker von Treunau (Thomas Heinze), der zum Minister ernannt werden soll, gerät unter Verdacht. Er führte ein Doppelleben, war mit dem Mordopfer befreundet – und Familienvater. Die Exfrau des Mordopfers ist die Journalistin Ulla Jahn (Marie-Lou Sellem), die um den Sendeplatz ihrer Talksendung kämpfen muss und 1987 offenbar mit Sauerland in Genf vor Ort war.
Die Querverbindungen zwischen dem fiktiven Mordfall und dem realen Fall Barschel damals nehmen Konturen an. Borowski und Brandt reisen nach Genf, landen im „Beau Rivage“, auf derselben Etage wie einst Uwe Barschel. Was die Kommissare im Luxushotel abliefern, auch im „Zimmer 317“, steht nicht immer im Einklang mit Dienstvorschriften und ermittlungstechnischen Gepflogenheiten in Europa. Da hält sich Moore an den Satz von Alfred Hitchcock: „Ein Kritiker, der mir was von Wahrscheinlichkeit erzählt, hat keine Fantasie.“
Ein mutiger, ein fantastischer „Tatort“. Alleine, wie sich der unsympathische Politiker von Treunau, Liebhaber des Opfers, zur bemitleidenswerten Figur mausert. Dass Barschels Tod nicht aufgeklärt werden kann, ist klar. Schlussdialog von Borowski & Brandt: „Vielleicht werden wir den Fall Barschel eines Tages lösen“ – „Versprochen?“ – „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.“
„Tatort – Borowski und der freie Fall“, ARD, 20 Uhr 15