Wenn der Mob marschiert: Vater,Mutter, Kind, Mord
Der Sat-1-Film „Nichts mehr wie vorher“ zeigt, wie eine Familie aus der heilen Welt kippen kann.
Ein elfjähriger Junge ist missbraucht und brutal getötet worden. Bald wird der 16-jährige Daniel Gudermann (Jonas Nay) verhaftet, schnell sprechen die Fahnder von „erdrückenden Beweisen“. Die Stimmung in der Kleinstadt radikalisiert sich, die Medien, auch die Politik sind in voller Empörung, im Netz kursieren Forderungen nach der Todesstrafe, der Mob marschiert. Der Sat-1-Film „Nichts mehr wie vorher“ macht die Stereotypen fett. Dabei bilden sie nur den Rahmen, sind die Warnschilder fürs große Publikum. Lasst euch von Presse und Posts und Polizei nicht verrückt machen, setzt „schwul“ und „Triebtäter“ nicht in eins, Autorin Henriette Piper, die mit Dramaturgie und Personal die Erinnerung an eine tatsächliche Hetzjagd in Emden im März 2012 aktualisiert, akzentuiert mediale Phänomene und gesellschaftliche Hysterien, zugleich bringt sie das Drama der Gudermanns ins Zentrum.
Denn hier ist nichts wie vorher. Daniels Verhaftung sprengt die Familie schier auseinander. Mutter Claudia (Annette Frier) stellt sich vor ihr Kind, im archaischen Maßstab wird sie um Daniels Unschuld kämpfen, die ältere Teenager-Schwester Emma (Elisa Schlott) tut in der Schule nichts anderes, der kleine Bruder (Jonathan Jakobsson) nimmt Partei und prügelt sich. Und der Vater (Götz Schubert)? Ulli Gudermann wollte einen starken, einen männlichen, sportlichen Sohn. Daniel hat sich unter der Erwartung weggeduckt. Geht es anders? Er ist schwul, er findet den stattlichen Nachbarsjungen toll. Nach dem Mord entdeckt der Vater Magazine, eine Website, er sieht Fotos, wie seine beiden Söhne miteinander spielen. Und ihn überfällt ein Verdacht und eine Furcht. Das zerreißt das Familienband.
Daniel hat eine ganz andere Angst als seine Familie: Er fürchtet das Bekanntwerden seiner Homosexualität viel mehr als den Mordverdacht. Er weiß ja, dass er es nicht war, aber wenn die anderen – vor allem der Vater – erfahren, dass er schwul ist? Das Ende der Fernsehfilms ist nicht gut, aber wenn es nicht gut ist, dann ist es auch nicht das Ende. In diesem Bedrohungsszenario ist „Nichts mehr wie vorher“ ganz bei sich. Zweifach: In der familiären Drucksituation fallen die überzogen akkumulierten Äußerlichkeiten ab, geht der Film in die Introspektive der Figuren. Regisseur Oliver Dommenget emotionalisiert das Geschehen und er individualisiert die Figuren.
Jonas Nay spielt den 16-jährigen Daniel. Nay, das ist seit „Homevideo“ der Schmerzensmann der Pubertierenden im fiktionalen Fernsehen. Nicht wissen, ob der Jung-Mann der sein will, als der er sich und anderen erscheint. Sich entdecken und darüber erschrecken. Und erschrocken zurückweichen vor einer Umwelt, der eigenen Familie. Jonas Nay ist ein großer In-between-Spieler, ein Geheimnis-Akteur, der im Schweigen, im Stillsitzen, im Verweigern Zeit und Raum für sich reklamiert. Magnetisch.
Annette Frier ist in diesem Film ganz weit weg von ihrer Anwältin Danni Lowinski. Wer dachte, die Schauspielerin ist Lowinski und das war’s dann, der darf sich eines Besseren belehren lassen. Ihre Claudia Gudermann übertreibt die Mutterfigur nicht, sie ist fest und wild entschlossen, sich vor ihren Jungen zu stellen und ihren irritierten, irrenden Mann nicht außen vor zu lassen. Liebe kennt keine Grenzen.
Für Ulli Gudermann schon. Sein Weltbild liegt in Trümmern. Der Sohn ist schwul. Ein Mörder? Gar ein Verderber seines Bruders? Götz Schubert spielt Gudermann in einem weiten Bogen. Vom selbstgewissen, selbstständigen Tischler hin zum zerrissenen, unselbstständigen Vater. Wie sich ein Gift verbreiten kann, wie einem Vater, der das Beste für „seinen“ Daniel will, immer nur das Drittbeste in den Sinn kommt. Joachim Huber
„Nichts mehr wie vorher“, Sat 1, Dienstag, 20 Uhr 15
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