"Charlie Hebdo"-Karikaturen in der Zeitung „Cumhuriyet“: Unpatriotisches Verhalten, urteilt der Präsident
Rügen und Nachrichtensperren: Recep Tayyip Erdogan erhöht den Druck auf die Medien
Premiere in Ankara: Zum ersten Mal seit seiner Wahl zum türkischen Staatspräsidenten 2014 hat Recep Tayyip Erdogan am Montag eine reguläre Sitzung des Kabinetts geleitet. Damit unterstrich er seine Entschlossenheit, das Land als Staatspräsident zu lenken, obwohl der Posten von der Verfassung als überparteiliches und repräsentatives Amt ausgelegt ist. Erdogans Machtdemonstration lässt Kritiker einen zunehmend autoritären Regierungsstil erwarten. Der Druck auf die Medien nimmt bereits beträchtlich zu.
Der Erdogan-kritische Kolumnist Kadri Gürsel schrieb in der Zeitung „Milliyet“ von einer Verfassungskrise, die durch Erdogans Anspruch auf den Kabinettsvorsitz ausgelöst werde. Die Verfassung sehe für den Präsidenten zwar die Leitung von Kabinettssitzungen vor, begrenze dies aber auf Zeiten des Notstands.
Erdogan will von solchen Beschränkungen nichts wissen. Doch wohin lenkt er das Land? Die jüngsten Äußerungen und Maßnahmen des Präsidenten und regierungstreuer Teile der Justiz richten sich vor allem gegen unbotmäßige Berichte und Kommentare in Presse und sozialen Medien.
Erdogan selbst attackierte die Zeitung „Cumhuriyet“ wegen der Veröffentlichung von „Charlie Hebdo“-Karikaturen. Die Justiz leitete Ermittlungen gegen das Blatt ein, weil zwei Kolumnisten die besonders umstrittene Mohammed-Karikatur vom Titelblatt der jüngsten „Charlie Hebdo“-Ausgabe in ihre Beiträge aufnahmen. Erdogan warf „Cumhuriyet“ antimuslimisches und damit unpatriotisches Verhalten vor. Schließlich sei die Türkei zu 99 Prozent muslimisch: „In welchem Land lebt ihr eigentlich?“, fragte er die Macher von „Cumhuriyet“. Selbst Atheisten müssten seine religiösen Gefühle respektieren, sonst begingen sie eine strafbare „Provokation“.
Einer Fernsehansagerin drohen fünf Jahre Haft
Bereits im Dezember waren mehrere Dutzend Journalisten festgenommen worden. Einer Fernsehansagerin drohen fünf Jahre Haft, weil sie auf Twitter die Einstellung der Korruptionsermittlungen gegen die Regierung kritisierte.
Ein Gericht verbot jetzt zudem die Verbreitung des „Charlie Hebdo“-Titelblatts durch Internetseiten in der Türkei. Ein anderer Richter erließ gleichzeitig eine Nachrichtensperre, um Berichte über einen angeblichen Waffentransport der Erdogan-Regierung an Al-Qaida-Rebellen in Syrien zu unterdrücken.
Dabei ging es um die Durchsuchung eines Lastwagenkonvois in der Nähe der syrischen Grenze vor einem Jahr. Nach Dokumenten, die vergangene Woche im Internet auftauchten, wirft die türkische Armee dem Geheimdienst MIT vor, er habe mit den Lastwagen mehrere Dutzend Granaten sowie Luftabwehrmunition an die Nusra-Front in Syrien schicken wollen. Die Regierung weist das zurück. Nun dürfen türkische Medien nicht mehr über die Internetenthüllungen berichten; Twitter löschte auf Bitten der Türkei die Tweets mit den Links zu den Dokumenten. Kritik aus dem Ausland lässt die türkische Führung kalt. Thomas Seibert / Istanbul