„Anne Will“ zur Bundestagswahl: Trotzkisten dürften es schwer haben
SPD, CDU und Linke streiten bei Anne Will über Steuererhöhungen und Umverteilung. Vor allem aber geht es darum, wer mit wem koaliert.
Der Knaller kommt zum Schluss. Ihre letzte Frage richtet Anne Will an Janine Wissler, die seit Anfang des Jahres Co-Vorsitzende der Partei „Die Linke“ ist. „Sie sind zwanzig Jahre lang, bis September 2020, Mitglied eines trotzkistischen Netzwerkes gewesen, das in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet wird“, sagt die Moderatorin und zitiert eine ganze Reihe höchst klassenkämpferischer Parolen aus dieser Bewegung. Warum blieb Wissler so lange? Warum trat sie so spät aus?
Die Angesprochene wirkt verlegen. Die Gesellschaft müsse verändert werden, sagt sie und versucht, sich in eine Beschreibung der Ungerechtigkeiten in der Weltwirtschaft zu flüchten. Doch sie merkt wohl selbst, dass das nicht reicht. „Ich sehe keinen Grund, mich davon zu distanzieren“, fügt sie trotzig (nicht trotzkistisch) hinzu. „Außerdem rede ich hier für die Linke und nicht für irgendein Netzwerk.“
Damit schloss sich der Kreis – doch dazu später - in einer interessanten, streckenweise etwas zähen Sendung mit dem Titel „Mindestlohn, Reichensteuer, Schuldenbremse – steht Deutschland vor einer Richtungswahl?“
Soziale Gerechtigkeit ist eines der Themen, das bei Wählern in der Prioritätenliste, zusammen mit dem Klimawandel, weit oben rangiert. Kein Wunder: Die Ausgaben schnellen in die Höhe. Pandemie, Klima, Digitales, Bildung, Überschwemmungshilfen, die Rentenkasse. Woher nehmen, ohne Steuern zu erhöhen?
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„Wir müssen rauswachsen aus den Schulden, uns nicht herausbesteuern“, fordert der Unions-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus. Wie das genau gehen soll, bleibt nebulös. Tino Chrupalla, Co-Vorsitzender der AfD, will, statt Steuern zu erhöhen, lieber bei den Ausgaben sparen. Bei den Sozialabgaben, den Migrationskosten, den deutschen EU-Beiträgen, der CO-2-Steuer („moderner Ablasshandel“). Ein radikaler Ansatz.
SPD-Chef spricht von Voodoo-Ökonomie der Union
Norbert Walter-Borjans, Co-Parteivorsitzender der SPD, bekennt: „Ich habe ein Störgefühl, wenn die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht.“ Der Union wirft er Voodoo-Ökonomie vor, ergänzt aber, dass nach dem Modell der SPD immerhin 95 Prozent der Bürger mehr im Portemonnaie haben würden. Dieses Modell sei übrigens von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der Parteispitze gemeinsam entwickelt worden. „Scholz denkt Gegenwart und Zukunft zusammen.“ Na dann.
[Ein Interview mit Olaf Scholz können Abonnenten von T+hier lesen: „Meine Anforderungen an die Linke sind unverhandelbar“]
Richtig klar in diesem Punkt ist nur Wissler. Die Reichen sollen die Zeche zahlen, ab einer Million Euro zu 75 Prozent. Punkt. Ob das auch für die Biontech-Gründer gilt, fragt Anne Will, die seien mit Fleiß, Innovationskraft, Ausdauer und Ehrgeiz reich geworden. Ausnahmen lässt Wissler nicht gelten. Reichtum verpflichtet. Sie erzählt von einer Frau, die 45 Jahre lang in der Pflege gearbeitet habe, sich selbst aber von ihrer Rente einen Platz im Pflegeheim nicht wird leisten können.
Wissler sieht viel Gemeinsames mit der SPD
Zurück zu dem Kreis, der sich schließt. Denn nicht die Wirtschaft stand im Mittelpunkt der Talkshow, sondern die derzeit beliebteste aller Fragen: Wer mit wem? Die einen nennen es eine verstaubt-verzweifelte Rote-Socken-Kampagne der Union. Die anderen warnen davor, dass unter dem Scholz-Schafspelz ein SPD-Wolf schlummert. Werden die Sozialdemokraten, wenn es nicht anders geht, mit den Linken paktieren?
Die Kamera schwenkt auf Walter-Borjans. „Ich lasse mich nicht in eine rot-rote-Koalition treiben“, sagt er. Er sagt aber auch: „Es gehört sich, dass man sondiert und mit allen demokratischen Parteien redet.“ Der Schlingerkurs ist ein Ergebnis jenes unseligen SPD-Parteitagsbeschlusses von 2013, demzufolge Koalitionen mit den Linken nicht ausgeschlossen werden dürfen. Das war das Zugeständnis damals an die Linken in der SPD, damit die moderaten Kräfte in eine große Koalition gehen durften.
Als Wissler dann eine „ganze Menge Gemeinsamkeiten“ zwischen ihren Linken und der SPD betont, verstummt Walter-Borjans mehrere Minuten lang. Denn Wissler sagt auch, dass über Koalitionen nicht einzelne Personen entscheiden – das ging gegen Scholz -, sondern Parteien. Wie viel SPD steckt in Scholz? Wie viel Scholz steckt in der SPD? Diese Frage bleibt wohl bis zum Wahltag offen.
Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:
- Interaktives Dashboard: Welcher Kandidat wieviel auf Social Media postet
- Bundestagswahl 2021: Sonntagsfrage, Wahlprogramme und die Kandidaten im Überblick
- Bundestagswahl 2021: Koalitionsrechner und historische Wahlergebnisse
- Entscheidungshilfe: Wahl-O-Mat für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin
Und überhaupt: Was für eine Wahl! Die Amtsinhaberin tritt nicht mehr an. Die Briefwahl hat begonnen, aber es gibt viele Unentschiedene. Wie schwer die Stimmung zu berechnen ist, zeigen Umfragen. In den vergangenen vier Monaten wechselten Union, Grüne und SPD einander auf dem Spitzenplatz ab. Und die Kandidaten?
Die SPD schickt Olaf Scholz ins Rennen, den sie zwar nicht zu ihrem Parteivorsitzenden gemacht hat, von dem sie aber meint, dass er das Land durchaus führen kann. Bei der Union setzte sich, nach lautem Ach und Krach, Armin Laschet durch, der sowohl in Angela Merkels Fußstapfen treten als auch für einen Neuanfang werben will. Ein klassischer Spagat. Die Grünen einigten sich hinter fest verschlossenen Türen auf Annalena Baerbock, über die Co-Parteichef Robert Habeck sagt, sie habe die „Frauenkarte“ gezogen.
Gibt es eine Wechselstimmung? Nein, sagt Helene Bubrowski, die in der Parlamentsredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ arbeitet. Es gebe Änderungsbedarf, aber keine Sehnsucht nach einem „180-Grad-U-Turn“. Vielleicht will der Wähler zwar andere Gesichter, aber keine grundlegend andere Politik. Stabilität und Erneuerung. Trotzkisten allerdings dürften es nach wie vor schwer haben.