Umstrittene Serie bei Netflix: „Tote Mädchen lügen nicht“: Fernsehen, das gefährdet?
Unterhaltsamer als jeder pädagogische Appell: Die Suizid-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ geht weiter – und die Debatte über den "Werther-Effekt" auch.
Was Fernsehen bewirken kann und was nicht, wird eigentlich schon immer hitzig diskutiert. Seit es in Abertausend Sender, Kanäle, Plattformen zersplittert, ist dabei meist vom „Neuen Kino Serie“ die Rede, das sein Publikum zwar nächtelang zum Bindge-Watching nötigt, aber kaum noch die Kraft zur gesellschaftlichen Debatte entfaltet.
Das lineare Angebot des alten Leitmediums dagegen hatte trotz Zuschauerzahlen hoch im achtstelligen Bereich zwar weniger Sogwirkung, war tags drauf aber verlässlich Stadt- und Dorf-, Büro- oder Fließbandgespräch. Zum Beispiel „Tod eines Schülers“.
Von der Kritik hochgelobt, löste Robert Strombergers Sechsteiler um den Suizid eines jungen Mobbingopfers 1981 wilde Spekulationen über Ursache und Wirkung aus. Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit beklagte seinerzeit, nach der Erstausstrahlung hätten sich dreimal mehr Jugendliche als zuvor vor fahrende Züge geworfen. Das ZDF reagierte mit Gegengutachten. Der Boulevard geiferte, Deutschland diskutierte. Wie sich die Zeiten gleichen, wie sie sich unterscheiden.
Als die gleichaltrige Highschool-Schülerin Hannah 36 Jahre später wegen Attacken ihrer Mitschüler bis hin zur Vergewaltigung fiktional Selbstmord beging, diskutierte schon deshalb nicht ganz Deutschland über „Tote Mädchen lügen nicht“, da nur ein kleiner Teil davon die Serienadaption des Romans von Jay Asher auf Netflix gesehen hatte; der englischsprachige Raum jedoch stritt mitunter gereizt über die vermeintliche Glorifizierung des Freitods in 13 Akten, besser: Audiokassetten.
Auf sieben Stück davon hatte Hannah zu Lebzeiten die Gründe für ihren Selbstmord aufgenommen und an Mitverantwortliche geschickt. Folge für Folge trat davon einer zutage und riss scheinbar Unschuldige in den Abgrund kollektiver Schuld.
Die Emotionen blieben schön am Kochen
Doch Folge für Folge, meinten Kritiker von Gesundheitsorganisationen bis zur „New York Times“, böte die Serie damit auch Anschauungsmaterial für Hunderte Jugendliche, die Hannahs Beispiel gefolgt sein sollen. Stichhaltige Beweise dafür gab es nicht.
Die Emotionen allerdings blieben schön am Kochen – und bescherten Netflix genau das, was es nach der zwischenzeitlichen Fortsetzung auch zum Start der dritten Staffel braucht [Netflix, ab Freitag online]: Aufmerksamkeit.
Die würde man nur zu gern auch dem Inhalt der neuen – dem Vernehmen nach keinesfalls letzten 13 Episoden – widmen. Leider gab es vor der Premiere am Freitag bis auf zwei kurze Trailer kein Ansichtsmaterial für Journalisten.
Um sie „von Fans und Presse zeitgleich entdecken zu lassen“, bog sich Netflix derlei Geheimniskrämerei zurecht. Tatsächlich aber hält der Streamingdienst damit bloß – ziemlich durchschaubar – die Erregungskurve auf Anstieg und vermeidet zugleich, dass sogleich weitere Bedenken-Stürme aufkommen.
So viel aber scheint gewiss: Nachdem Showrunner Brian Yorkey das epische Sterben des irritierend schönen, anfangs beliebten Intrigenopfers (Katherine Langford) zunächst noch durch die Augen ihres Mediums Clay (Dylan Minette) geschildert und dann ins Strafgericht verlegt hatte, wo er die Schuldfrage juristisch klären ließ, dreht Netflix die Eskalationsspirale nun Richtung Täter.
Von denen nämlich wird mit Bryce (Justin Prentice) die treibende Kraft hinter Hannahs Suizid getötet. Und je mehr sich das Geschehen von seiner Titelfigur entfernt, desto deutlicher wird, wie notwendig oder eben nicht notwendig die Warnung vorm vermeintlichen „Werther-Effekt“ ist, der in den USA angeblich zu Nachahmungstätern geführt habe, wie der österreichische Mediziner Thomas Niederkrotenthaler gerade wieder gemahnt hat.
Nach dieser Logik müsste allerdings die gesamte Fernsehunterhaltung waffen-, straftaten-, drogen-, gewalt-, sexualitäts- und in Zeiten der Klimakrise auch fleisch-, flug-, fossilfrei sein – oder wie in der Netflix-Serie ihr Gewissen mit wohlfeilen Erklär-Videos freikaufen, in denen die Hauptdarsteller labile Persönlichkeiten vorm eigenen Produkt warnen.
Dabei geht es auch in ähnlicher Fiktion wie Kilian Riedhofs epochalem Mobbingdrama „Homevideo“ oder der schwedischen Amokläufer-Studie „Quicksand“ nur am Rande ums (freiwillige) Sterben Jugendlicher, geschweige denn dessen Glorifizierung; im Zentrum steht die entfesselte Kraft sozialer Medien, in denen das gesamte Miteinander so radikal kapitalisiert wird, dass Menschen darin mehr zur Ware werden als es die Sklaverei je vermocht hätte.
Von dieser ganz alltäglichen Katastrophe in nahezu jedem kommunikativen Umfeld handelt „Tote Mädchen lügen nicht“ – und zwar präziser, aufwühlender, klüger, vor allem aber unterhaltsamer als jeder pädagogische Appell.
Jan Freitag