Wie das Internet groß wurde: „The Billion Dollar Code“
Große Spannung. großes Finale: Die deutsche Netflix-Serie zeigt Computerpioniere im Patentprozess mit Google. .
Damals, Anfang der 90er Jahre im Nachwende-Berlin, gab es zwei Studenten, die sich zu Computer-Pionieren aufschwingen sollten. Der eine, Juri Müller, hackt sich für den Chaos Computer Club in manche Netze, der andere, Carsten Schlüter, sucht sich einen computergenerierten Weg durch die Künstler-Wollen-Werden-Welt der Universität der Künste. Sie kommen zusammen und sie haben eine „Terra Vision“: ein Apparat, mit dem Menschen auf einem Bildschirm jeden Punkt dieser Welt ansteuern können. Ambitioniertes Unterfangen, aufwendig zudem. Inkubatoren, wie Investoren damals hießen, müssen gefunden werden.
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Und es ist keine kleine Ironie in dieser Geschichte nach einer wahren Begebenheit, dass der träge Telekommunikationsriese, die Deutsche Telekom, Geld bereitstellt für die Pioniertat. Bis zur Tech-Messe ITU 1994 in Kyoto muss „Terra Vision“ betriebsbereit sein. Müller und Schlüter stellen eine junge Mannschaft aus zahlreichen Freaks und einem Schwaben zusammen.
25 Jahre später sitzen Juri Müller und Carsten Schlüter wieder in Berlin, dieses Mal ist ihr Gesprächspartner ein Anwaltsteam mit Lea Hauswirth (Lavinia Wilson) und Eric Spears (Seumas Sargent) an der Spitze. Die Anwälte wollen im harten Dialog mit Müller/Schlüter herausfinden, ob sich ein Zehn-Millionen-Dollar-Prozess lohnen könnte: Das Duo beschuldigt den Techgiganten Google, den Algorithmus von Terra Vision für Google Earth gestohlen zu haben.
Das ist die Ausgangslage der Netflix-Serie „The Billion Dollar Code“. Eine deutsche Produktion, ausgebreitet in vier Teilen. Showrunner, Drehbuchautor und Produzent ist Oliver Ziegenbalg („Frau Müller muss weg“), Robert Thalheim („Kundschafter des Friedens“) zeichnet als Co-Autor und als Regisseur.
Die Serie, sie fußt auf einer wahren Begebenheit, spielt auf zwei Zeitebenen: da sind die Hackerszene im Berlin anfangs der 90er und die idealistische Welt des frühen Silicon Valley, da ist die heutige, harte Realität eines Multi-Millionen-Dollar-Prozesses im Milliarden-Dollar-Milieu dieser Internet-Welt. Subkutan erzählt „The Billion Dollar Code“ vom Traum eines weltumspannenden, freiheitsorientierten, demokratischen Werkzeugs aus der Hand weniger in die Hand aller. Als das Internet noch Neuland war, von einzelnen betreten und den meisten belächelt. Es gibt da eine sehr schöne Szene, als Müller/Schlüter nach ihrem Kyoto-Erfolg potenziellen Investoren für Art+Com ein Anwendungsbeispiel illustrieren: Auf den Bildschirmen von Flugzeugsitzen kann jeder Passagier den Flug verfolgen. Heute eine Selbstverständlichkeit, damals unvorstellbar. Jedenfalls für die ungläubigen Investoren.
["The Billion Dollar Code", Netflix, ab 7. Oktober]
Müller/Schlüter verlieren zusehends die Hoffnung auf Unterstützung aus dem Markt, um dann in tiefste Verzweiflung gestürzt zu werden: Google Earth kommt auf den Markt, ein Millionen-Seller, und die Erwartung, dass Google mit den Erfindern des Algorithmus ins Gespräch und ins Geschäft kommen will, verfliegt beim ersten Treffen. David ist chancenlos gegen Goliath – aber 25 Jahre später soll diese Ungerechtigkeit getilgt werden. Alles andere als einfach: Müller, er gärtnert in Budapest, und Schlüter, der UdK-Professor, sind längst tief zerstritten über die Frage, wer Schuld hatte am Misserfolg. Aber wenn dieses Ende das Ende sein sollte, dann ist es nicht das Ende.
Achterbahnfahrt
Die emotionale Ebene wird als Achterbahnfahrt ausgiebig bespielt, zugleich von der Digitalisierung der Welt berichtet wird, und dann ist da der unglaubliche spannende Prozess. „The Billion Dollar Code“ bietet unterschiedliche Zugänge, und es spricht für die Intelligenz dieser Produktion, dass keine Perspektive übertrieben noch untertrieben wird.
Die Qualität der vier Teile bezeugt insbesondere der Cast. Leonard Scheicher spielt den jungen Carsten Schlüter, Mark Waschke den 25 Jahre älteren, Marius Ahrendt Juri Müller in Jung, Misel Maticevic die erwachsene Version.
Schauspielerische Könnerschaft
Über Waschke („Tatort“) und Maticevic („Babylon Berlin“) schwebt stets das Gütesiegel schauspielerischer Könnerschaft, was aber Scheicher und Ahrendt abliefern, das steht diesem prägnanten Spiel in keiner Weise nach. Auch Lavina Wilson und Seumas Sargent wollen als Anwältin und Anwalt über das Stereotyp dieses Berufs hinausgehen. Ihre Rechtsanwälte sind eisenharte Profis und zugleich vom Streben nach Gerechtigkeit beseelt.
Überhaupt, die Serie bietet in Szenenbild (Myrna Drews), im Kostümbild (Ingken Benesch), in allen Gewerken eine Sehnsucht nach Perfektion. Es ist dieser Wille nach Fugengenauigkeit, die auch Kameramann Henner Besuch und Regisseur Robert Thalheim in den Szenen von Ensemble- bis Kammerspiel bezeugen. Schon schade, dass es mit Folge vier ins Finale geht. Da wäre mehr drin gewesen.