Reportage über junge Radikale aus Deutschland: Terrorist – Anti-Terrorist
Hier Islamischer Staat, dort kurdische YPG: ProSieben-Reportage über junge Deutsche auf beiden Seiten der IS-Front.
Bundesregierung und Auswärtiges Amt hatten sich blind und taub gestellt. Irgendwie gehofft, dass die deutschen IS-Kämpfer dort bleiben, wo sie sind: Syrien, Irak und Türkei. Jetzt aber hat die Türkei begonnen, tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger des „Islamischen Staates“ nach Deutschland abzuschieben. Damit sind sie wieder in den Fokus geraten: Deutsche, Männer und Frauen, die sich dem IS angeschlossen hatten. Ein „ProSieben Spezial“ nimmt sie in den Reportageblick. „Deutsche an der Isis-Front“ geht auch auf die andere Seite. Journalist Thilo Mischke begleitet deutsche Kämpfer wie Martin K., der freiwillig und ohne Sold in Syrien und im Nordirak mit der kurdischen YPG gegen versprengte IS-Terroristen kämpft.
Geplant war die Dokumentation kleiner, also im gewohnten „Uncovered“-Format, als aber ProSieben-Chef Daniel Rosemann erste Bilder von der Recherchereise sah, stand schnell fest: groß, sprich 90 Minuten (inklusive Werbung), beste Sendezeit am Dienstag um 20 Uhr 15. Die Anstrengung hätte auch ARD und ZDF gut angestanden, umso bemerkenswerter, dass ein kommerzieller Sender bei seinem (Unterhaltungs-)Publikum ins Risiko geht. Und wenn Vor-Ort-Reporter Mischke sagt, „je mehr junge Zuschauer das sehen, umso besser“, dann hat er recht. IS-Terrorist Martin Lemke ist 28, der Anti-IS-Krieger Martin K. 23.
Lemke holte sich jesidische Sklavin
„Zeit online“ schrieb über Lemke: „Vom Schweißer zum Schlächter“. Der Mann aus Zeitz hatte sich 2014 radikalisiert, war zum IS nach Syrien gegangen. Er soll für dessen Geheimdienst gefoltert und getötet haben. Er war wer im Kalifat, drei Frauen, davon eine jesidische Sklavin, die er sich gekauft hatte. Inzwischen inhaftiert, trifft ihn Mischke an einem geheimen Ort in Syrien. Nervös, fahrig, in sich verkleinert, als wolle er, der sich seit seiner Konvertierung Nihad nennt, seine zentrale Aussage schier verkörpern: „Ich bin zwar ein anerkannter Terrorist, aber ich bin auch nur ein Mensch.“ Alle Vorwürfe streitet er ab, „was da über mich berichtet wurde, war schon lächerlich“. Martin Lemke hofft auf seine Auslieferung nach Deutschland, er arbeitet an seinem öffentlichen Bild, wie anders, wenn ihn und andere IS-Mitglieder in Deutschland Strafverfolgung erwartet.
Szenenwechsel: Thilo Mischke, der sich auch bei dieser „Uncovered“-XXLAusgabe von den Erzählungen, Erlebnissen, Erfahrungen bewegen lässt, fährt mit Martin K. zum Kampfeinsatz. Kurdische YPG-Kämpfer stellen IS-Terroristen, Gefangene werden nicht gemacht. Wie auf IS-Seite, so werden auch die kurdischen Einheiten von internationalen Kämpfern verstärkt. K.s Trupp wird von einem Spanier angeführt, ehemals Mitglied einer Spezialeinheit. Nur ein Söldner? Auf jeden ein wohl 50-Jähriger, der mit und für den Krieg gelebt hat und lebt. Bei den jungen Deutschen an der Isis-Front ist die Motivation undeutlicher. Abenteuerlust, keinen Bock auf einen Acht-bis-17-Uhr-Job, von der braven Bundeswehr in den richtigen Kampf auf Leben und Tod.
Die sinnfälligste Antwort für Kriegs- und Terrordienst 3000 Kilometer weit weg von Deutschland gab Claudia Dantschke, Islamismus-Expertin und Leiterin der Deradikalisierungs-Beratungsstelle Hayat, bei der Pressevorführung in Berlin: „Bei jungen Menschen, vor allem jungen Männern, stoßen Salafisten und IS auf emotionalen Frust. Sie können diesen aber positiv deuten, in eine Suche nach dem Islam, dem Islamismus umdeuten.“ Das sei so, als würde das offene Fenster in einem Menschen plötzlich geschlossen. Radikalisierung geht schnell, Deradikalisierung dauert, ein langer, nicht immer von Erfolg gekennzeichneter Prozess.
Frauen des "Islamischen Staats"
Schon schade, dass Claudia Dantschke nicht in der Dokumentation, die fast schon ein Dokument ist, nicht selbst auftritt, ihre Erklärungen hätten da notwendigerweise hineingehört.
Das ProSieben-Spezial will eben von der ersten bis zur letzten Minute vor Ort, Presenter-Report sein. Also wird eine weitere Perspektive herangezoomt. Mischke und sein Team gehen ins Lager Al-Hoi hinein, eine Mischung aus Flüchtlings- und Gefangenencamp; dort leben annähernd 70 000 Menschen, darunter viele Frauen, die sich dem IS angeschlossen hatten. In der internationalen Sektion leben junge deutsche Frauen mit ihren Kindern. Eine sagt: „Ich habe ja nichts verbrochen, außer mich einer Terrororganisation anzuschließen.“ Dem Kalifat dienen, Kinder kriegen – ist das schon ein Verbrechen?
Thilo Mischke lernt einen 13-jährigen Jungen aus Pakistan kennen. Er kauft ihm ein Handy im Lagershop, obwohl Handys im Lager streng verboten sind, damit er seine Großeltern erreichen kann. Da ist er, der Moment der Menschlichkeit eines jungen Menschen, der nicht an der Isis-Front steht, sondern vor der ungewissen Frage, was seine Zukunft ist.
„ProSieben Spezial: Deutsche an der Isis-Front“, Dienstag, 20 Uhr 15
Joachim Huber
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