Der Mann, der den Sonntagabend erfand: „Tatort“-Erfinder Gunther Witte ist tot
Der langjährige Fernsehspielchef des WDR, Gunther Witte, ist tot. Ohne ihn hätte es keinen "Tatort" gegeben – und wohl auch keine "Lindenstraße".
Es ist Sonntagabend, der 29. November 1970. Im Fernsehen läuft der vom NDR produzierte Film „Taxi nach Leipzig“, die Geschichte um einen grausigen Leichenfund auf einer Autobahnraststätte, mit dem Hamburger Kommissar Paul Trimmel (gespielt von Walter Richter). Auftakt zu einer neuen TV-Krimireihe, die noch Jahrzehnte nach ihrem Debüt, jeden Sonntag um 20 Uhr 15, Millionen von Zuschauern vor die Mattscheibe lockt: der „Tatort“.
Erfinder dieses ganz besonderen Fernsehformats: Gunther Witte, ein studierter Theaterwissenschaftler, der zwar privat gelegentlich den ein oder anderen Krimi las, darüber hinaus aber mit dem Genre „nichts am Hut hatte“, wie er in Interviews später zugab.
Nichtsdestotrotz wurde aus Wittes Idee – eine Erfolgsgeschichte. Witte konzipierte diese Krimireihe nach einfachen Regeln. In jeder Folge sollte ein Kommissar im Mittelpunkt stehen und die Geschichte regional gefärbt sein. Entsprechend hat jede Landesrundfunkanstalt ihren eigenen Ermittler, der mit dem örtlichen Dialekt vor einer Kulisse agiert, die dem Zuschauer vertraut ist. Das Publikum soll außerdem stets das Gefühl haben, dass jeder fiktionale Fall so wirklich hätte passieren können. Klingt alles stupende einfach, aber darauf musste erst mal jemand kommen. Der „Tatort“ war ja zunächst auch nur für zwei Jahre geplant.
Begonnen hatte alles, noch ganz ohne Krimi, beim WDR. Dorthin kam der am 26. September 1935 im lettischen Riga geborene Witte, nach Jugendzeit in Berlin, Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und Arbeiten als Dramaturg an den Städtischen Theatern Karl-Marx-Stadt, bevor er 1961 von der DDR in die Bundesrepublik wechselte und freier Lektor bei der Bavaria wurde.
Grausiger Fund auf einer Autobahnraststätte
Ab 1963 war Witte dann als Redakteur und Dramaturg in der Fernsehspiel-Abteilung des WDR tätig. Zunächst arbeitete er als Redakteur und Dramaturg in der Abteilung Fernsehspiel, von 1979 bis 1998 als verantwortlicher Leiter. Das Konzept für den regional geprägten „Tatort“ im Ersten entwickelte Witte 1969. Das Format sollte den zunehmend erfolgreichen Krimis des ZDF ("Der Kommissar") Konkurrenz machen. Das Vorbild war die auf tatsächlichen Kriminalfällen basierende Hörspielserie „Es geschah in Berlin“ des West-Berliner Hörfunksenders RIAS, die Witte aus seiner Studienzeit kannte.
Ein Jahr später ging dann mit „Taxi nach Leipzig“ der erste „Tatort" auf Sendung. In den Folgejahren war Witte an vielen weiteren wichtigen Fernsehfilmproduktionen des WDR beteiligt, als Produzent etwa an Volker Schlöndorffs „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und an Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“.
Er arbeitete mit Regisseuren wie Wolfgang Petersen („Die Konsequenz“), Peter Beauvais („Die Ratten“) und Bernhard Wicki zusammen, mit dem er das Drehbuch zu dessen Film „Die Eroberung der Zitadelle“ schrieb, der 1977 im Wettbewerb der Berlinale lief. Verdient machte sich Witte zudem als Förderer des Doku-Dramas. In seine Zeit als Fernsehspielchef des WDR fiel auch der Start eines weiteren Dauerbrenners im Sonntagsprogramm des Ersten, der „Lindenstraße“.
Witte unterstützte Hans W. Geißendörfer bei der Realisierung der 1985 gestarteten Fernsehserie, deren 1683. Folge jetzt gerade am Sonntag lief. 1998 ging Gunther Witte in den Ruhestand. Seine größte Erfindung ist und bleibt: der „Tatort“, Quotengarant im ARD-Programm. Aus einem Fernsehexperiment ist Kult geworden.
Dabei ging der Mann, der des Deutschen liebsten Krimi erfand, Sonntagabends lieber in die Oper. Das „Taxi nach Leipzig“ wurde als 1000ter „Tatort“ 2016 mit Axel Milberg und Maria Furtwängler mehr schlecht als recht recovered. Der Quote tat das keinen Abbruch. Dass der „Tatort“ sich so lange gehalten habe, habe auch damit zu tun, dass junge Autoren und Regisseure ständig versuchten, die Grenzen des Genres zu erweitern und zu überschreiten, sagte der Autor, Dramaturg und Produzent vor zwei Jahren im Interview.
Ob er dabei mit jedem „Tatort“-Experiment der jüngeren Vergangenheit einverstanden war, hat er nicht verraten. Am Montag teilte der WDR mit, dass Gunther Witte bereits am Donnerstag im Alter von 82 Jahren in Berlin gestorben ist. Das erfuhr der WDR aus dem Kreis seiner Familie. „Gunther Witte war eine der herausragenden Persönlichkeiten des Fernsehspiels“, würdigte WDR-Intendant Tom Buhrow den Verstorbenen. Witte erhielt 2001 die „Besondere Ehrung“ des Adolf-Grimme-Preises für Persönlichkeiten, die sich um das Fernsehen verdient gemacht haben. „Mit seiner einzigartigen Erfindung der ,Tatort'-Reihe hat er den WDR und das deutsche Fernsehen so nachhaltig geprägt wie kaum ein anderer. Das, was er geschaffen hat, bleibt und wird unsere Zuschauer weiterhin bereichern.“
Wahrscheinlich wird im 2000. „Tatort“ wieder nach Leipzig gefahren.