"Stilistik-Handbuch" für Deutschlandfunk Kultur: Sprechen Sie mir nach
„Framing-Manual“? Deutschlandfunk Kultur nennt es "Stilistik-Handbuch". Die Mitarbeiter sollen für Musterhörerin senden
„Unsere zentrale Frage lautet: Wie erreichen wir Susanne Wagner?" Telefonisch, per Mail, es gibt einige Wege, Deutschlandfunk Kultur hat eine ganz eigene Antwort gefunden: durch sein und nur durch sein Programm. Susanne Wagner ist die neue Bezugsgröße des Programms in Berlin, das Deutschlandradio neben Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Nova in Köln veranstaltet. Und die 48-Jährige ist eine Fiktion, genauer: die Musterhörerin im neuen „Stilistik-Handbuch" für das Programm. 14 Seiten umfasst es, geschrieben hat es Wortchefin Marie Sagenschneider.
Im Eingang des „Stilistik-Handbuchs“ steht: „Wenn wir in der digitalen Welt mit ihrer starken Ausdifferenzierung und Konkurrenz überleben wollen, müssen wir nicht nur wiederauffindbar, sondern auch wiedererkennbar und unverwechselbar sein.“ Deutschlandfunk Kultur möchte Orientierung stiften, zuallererst und insbesondere für Susanne Wagner. Der Musterhörerin wurde ein ausgefeilter Lebenslauf ausgestellt. Vor 48 Jahren in Leipzig geboren, macht nach der EOS eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin. Nach dem Mauerfall „geht sie ins Sehnsuchtsland Italien“, danach studiert sie in Freiburg Architektur und lernt 1995 Niko aus Dubrovnik kennen. Sie bekommen 1997 eine Tochter, trennen sich 2000. Wechsel nach Frankfurt am Main, Susanne Wagner geht mit Matti aus Helsinki eine Verbindung ein, ein zweites Kind wird geboren. Heute hat sie eine Firma für nachhaltige Architektur, sie kämpft gegen steigende Mieten in Sachsenhausen, unterstützt ein Mädchen-Schulprojekt in Simbabwe.
Auf Augenhöhe mit Musterhörerin Susanne Wagner
Die Biographie ist noch weitaus umfangreicher, damit die Mitarbeiterin und der Mitarbeiter von Deutschlandfunk Kultur sich ein ganz genaues Bild der Musterhörerin machen können. „Wir bewegen uns auf Augenhöhe mit Susanne Wagner“, heißt es. „Wir sprechen sie direkt und persönlich an; einzeln, nicht als Gruppe. Wir sitzen mit Susanne Wagner am Küchentisch.“ Ob sich da nicht alle anderen Hörerinnen und vor allem die Hörer ausgeschlossen fühlen? Egal, das Handbuch will einen Rahmen schaffen, „um Deutschland Kultur als Gesamtprogramm (und nicht als Abfolge einzelner Sendungen) stets erkennbar zu machen“. Das entsprechende Regelwerk formuliert Ansagen zu Sendungsende/Verabschiedungen, Begrüßungen, zur „Ansprache Susanne Wagner“, zur Mündlichkeit (Moderation/Wortbeiträge/Fremdgeführte Interviews/Umgang mit O-Tönen) und zur Musikmoderation. Es geht im Kern um das Wie, nicht um das Was. Im Deutschlandfunk Kultur am Hans-Rosenthal-Platz in Berlin darf auch weiterhin selber gedacht werden, nur im Moment, wenn die Mikrofone offen sind, muss das Programm im beschriebenen Sinne und zum Zweck weiterer Hörergewinnung durchhörbar sein. Ein Ton soll vielfältige Tonlagen ersetzen, ein Radio will Formatradio sein. Muss so sein: Wer anders handelt, irritiert Susanne Wagner.
Irritieren geht gerade noch so durch, was die Musterhörerin sicher in die Flucht treibt, das sind die für das Tagesprogramm identifizierten „Abschaltfaktoren“. Sie finden sich bei der Musikauswahl: „Schlager, Balkan-Pop, Klassik“. Das mit der Klassik erstaunt, denn warum das Publikum von Deutschlandfunk Kultur sich von Klassik abgeschreckt fühlen soll, überrascht beim „Feuilleton im Radio“ denn doch.
Die entschiedene Ansage, die das „Stilistik-Handbuch“ durchzieht, lässt auch im Finale nicht nach. Sendungsübergreifende Feedback-Strukturen für Redaktion und Moderation sind ebenso installiert wie der „Aircheck Mündlichkeit inkl. Coaching (Moderation)“. Und weil Kontrolle immer schon die bessere Methode ist, um erfolgreich Radio zu machen, „ist die Teilnahme an den Feedbacks und Airchecks für alle verpflichtend“.
Du, Susi, du
Susanne Wagner soll davon nichts mitbekommen, aber unter Beobachtung steht sie schon: „Wir haben vereinbart, in einigen Jahren zu überprüfen, wie sich Susanne Wagner entwickelt und ob im Sinne der Zeitgenossenschaft Susanne lieber geduzt werden möchte.“ Du, Susi, du.
Gesetzeskraft soll das „Stilistik-Handbuch“ nach interner Diskussion mit der Programmreform am 1. Juli erhalten. Es erinnert an das „Framing-Manual“ der ARD. Das Strategiepapier der Linguistin Elisabeth Wehling hat heftige Reaktion erfahren, die Handreichung wurde als Anleitung zum „Zwangssprech“ kritisiert, ARD-Generalsekretärin Susanne Pfab spricht unverdrossen von Diskussionsgrundlage. Das „Stilistik-Handbuch“ ist da härter, es ist eine Anweisung, seine „Regeln sind für alle Sendungen verbindlich“.
Worin sich „Manual“ und „Handbuch“ gleichen: Sie lesen sich wie Misstrauenserklärungen der Leitungsebenen an die Profis in Kommunikation und Programm. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk zeigt sich von der öffentlichen Diskussion verunsichert, also wird mit strenger Fürsorge nach innen reagiert und regiert.