Zeitungsstadt Berlin: „So vielfältig wie sonst nirgends in Deutschland“
Anlässlich der Neuauflage von Peter de Mendelssohns Standardwerk "Zeitungsstadt Berlin" wurde im Ullsteinhaus über die Zukunft der Branche diskutiert.
Der Weg von kubanischen Revolutionären zu deutschen Verlegern ist gar nicht so weit, wie sich bei einer Podiumsdiskussion am Donnerstagabend anlässlich der erweiterten Neuauflage von Peter de Mendelssohns Standardwerk „Zeitungsstadt Berlin“ (siehe hierzu auch „Mehr Berlin“) herausstellte. In dem von Brigitte Fehrle, Kolumnistin und Ex-Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“, moderierten Gespräch diskutierte der Medienwissenschaftler Leonard Novy mit dem Chefredakteur der „Berliner Morgenpost“, Carsten Erdmann, und dem Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner über die Entwicklungen auf dem Berliner Pressemarkt in den vergangenen 30 Jahren.
Zu den prägenden Einflüssen dieser Zeit, die in „Zeitungsstadt Berlin“ nun auch abgebildet wird, gehört nicht zuletzt die Gratiskultur des Internets. „Wären wir Verleger nicht Kommunisten geworden, wären wir heute viel schlechter dran“, erwiderte Turner auf Fehrles Frage, warum die Verleger vor 20 Jahren entschieden haben, alle Inhalte umsonst ins Internet zu stellen. Hätten das die Zeitungsverleger nicht getan, hätten es andere – zum Beispiel die TV-Unternehmen – gemacht, und man hätte heute diesen Zugang zum Leser gar nicht mehr, sagte Turner auf der Veranstaltung, die vom Deutschen Pressemuseum im Ullsteinhaus organisiert wurde. Gratiskultur oder Bedeutungslosigkeit, die moderne Form von „Sozialismus oder Tod“.
Carsten Erdmann erinnerte daran, dass die „Berliner Morgenpost“, die vor der Übernahme durch die Funke-Mediengruppe zum Springer-Konzern gehörte, als eine der ersten Zeitungen für ihr Internetangebot eine Paywall eingeführt hatte und dafür von den Lesern und Google gleichermaßen abgestraft wurde. Die Einbußen bei der Online-Reichweite habe man erst langsam wieder aufholen können. Eine kollektive Einrichtung von kompletten Zahlschranken hält Turner für unrealistisch. Wenn alle Zeitungen eine Paywall gehabt hätten, wäre er nicht beim Tagesspiegel eingestiegen, sondern hätte auf der anderen Straßenseite ein neues Angebot gegründet und damit auskömmliche Einnahmen erzielt, argumentierte er. Zudem sei das Internet nicht an allen Entwicklungen schuld. „Sie finden keine Schnitzel von Edeka im Internet“, sagte Turner, die Werbung dafür ginge in Handzettel und Prospekte. Zu der Entkopplung des Zeitungsgeschäfts von Rubriken- und Handelsmärkten käme die Abwanderung auf dem Lesermarkt, fasste Leonard Novy diese Entwicklungen aus medienwissenschaftlicher Sicht zusammen.
Unglaubliche Möglichkeiten für den Journalismus
Doch welche Konsequenzen haben die Verlage daraus gezogen? „Wir schauen nun genauer als vor zehn, fünfzehn Jahren hin, was unsere Leser wollen“, sagte „Morgenpost“-Chefredakteur Carsten Erdmann. Den Fokus legt die Zeitung auf lokale Informationen, die nationale und internationale Berichterstattung wird durch die Funke-Zentralredaktion gewährleistet, die Synergien ausschöpft, indem sie für elf Titel der Gruppe tätig ist. Zugleich werde bei den digitalen Medien experimentiert, „wie die unglaubliche Vielfalt an neuen Möglichkeiten für den Journalismus“ genutzt werden könnte. Dabei müsse herausgefunden werden, welche Plattformen relevant seien oder eben nicht. „Die Differenzierung nach Kanälen von Facebook bis zu Whatsapp muss noch verstärkt werden.“
Der Tagesspiegel versucht nach Turners Worten seit mehreren Jahren bei den ganz Großen mitzuspielen, was Bundespolitik, politische Hintergründe und Politik für Profis angehe. Daraus erwachse in ganz Deutschland ein Abo-Geschäft, weil erkannt werde, dass da auf einmal eine Zeitung aus Berlin so relevant sei, dass sie den Preis wert ist. Hinzu komme die Hyperspezialisierung auf ausgewählte Themenfelder. Ein sechsköpfiges Redaktionsteam kümmert sich beim Tagesspiegel allein um die Energie- und Umweltpolitik. Die Rechercheergebnisse fließen in einen kostenpflichtigen Newsletter, aber in kompakter Form auch in die Zeitung.
Die Zeitungsstadt Berlin ist nach wie vor von einer Vielfalt geprägt, die es so in Deutschland sonst nicht gibt, darüber waren sich die Diskutanten im Ullsteinhaus einig. Ein Zeitungssterben wie in den USA sei hier derzeit nicht zu beobachten, sagte Novy. Dennoch werde die Zeit kommen, in der eine Debatte geführt werden müsse, was der Gesellschaft die Zeitungsvielfalt wert sei. Kurt Sagatz
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