Selbstvermessung: Smartphone-Daten für das Ich-Labor
Essen, schlafen, denken: Die „Quantified-Self-Bewegung“ vermisst sich mithilfe von Computern permanent selbst. Der Literaturprofessor Stephan Porombka sucht mit seinem Smartphone nach den Quellen seiner Kreativität. Er hat aufgeschrieben, wie sich das anfühlt.
Von der Haustür aus sind es 4,2 Kilometer bis zum Rollfeld des Flughafens Tempelhof. Wenn ich den ersten Kilometer mit 12,5 km/h und einem guten Puls laufe, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich für meine ganze 14-Kilometer-Strecke nur wenig mehr als eine Stunde brauche.
Seit auf meinem Smartphone eine App installiert ist, die alle Läufe aufzeichnet und mir Zwischenstände über die kleinen Hörer im Ohr mitteilt, habe ich das gelernt. Ich weiß gut über jeden Kilometer von hier bis zum Rollfeld Bescheid. Ich weiß, wie mein Körper reagiert. Wann er zu Höchstform aufläuft. Wann er schlappmacht. Ich weiß, was ich vorher wann essen muss, damit ich auf halber Strecke nicht zu schwer, aber auch nicht zu hungrig bin. Und ich weiß, was Tage danach mit mir passieren kann, wenn ich zu schnell laufen will. Alles wird über mein Smartphone protokolliert und in Statistiken übersetzt. Aus Balken und Torten, die aus den Werten der letzten Tage, Wochen und Monate gebaut sind, lese ich ab, wie es mit mir als Läufer so läuft.
Aber nicht nur ich. Nach jedem Lauf lasse ich die Werte automatisch auf meiner Facebook-Seite und bei Twitter posten. Wer von meinen Kontakten dann den letzten Stand der Dinge sehen will, muss nur klicken. Auf diesen Seiten mischen sich meine sportlichen Aktivitäten mit dem, was ich sonst noch tue. Hier kann man sehen, welche Musik ich wann höre, welche Artikel oder welche Bücher ich gerade lese, welche Themen mich interessieren und wie ich an ihnen arbeite. Auf einer weiteren Webseite, die ich nutze, kann man nachvollziehen, was ich beim Lesen unterstrichen und verschlagwortet habe. Auf all diesen Seiten lässt sich verfolgen, wann ich in den sozialen Medien aktiv bin, wem ich folge und wen ich kommentiere. Jeden Tag kommen Freunde und Follower hinzu. Ich weiß, wie viele es sind, und alle anderen wissen es auch.
Das alles wird für mich mit einem Programm verknüpft, ausgezählt und wieder in Torten und Balken verwandelt. Die speichere ich, überfliege sie, studiere sie manchmal auch intensiver. Ich versuche, Beziehungen zu erkennen. Zum Beispiel zwischen dem Lesen, dem Schreiben, dem Laufen und dem Schlafen. Zum Beispiel zwischen dem Essen, dem Twittern, dem Surfen im Netz, dem Schreiben von Mails und meiner Stimmung. Zum Beispiel zwischen der Musik, die ich höre, und meinen neuen Ideen.
Es ist, als würde ich in das Protokollbuch eines Labors schauen. Hier experimentiere ich mit mir. Ich stelle Überlegungen über das an, was ich als Wissenschaftler konkret mache und wie ich es mache, wenn ich lerne und lehre. Dabei forsche ich eigentlich nach den Bedingungen und Möglichkeiten dieses großen Gefühls von Euphorie, das mich zuweilen ergreift und mich in einen Flow versetzt, in dem ich mit den Menschen, den Dingen, den Gedanken und den Buchstaben schweben kann. Das sind dann Bausteine für meine Einführung in die Literaturwissenschaft, die vor allem eins in Form einer fortlaufenden Performance vermitteln und mit konkreten Daten unterfüttern will: das ganze ökologische Netzwerk der Aktivitäten, die meine Kreativität befördern und die Produktivität in Bewegung halten.
Ich fürchte, dass ich damit wohl ein Verwandter jener Nerds bin, um die es derzeit einen großen Hype gibt, weil sie alle Möglichkeiten nutzen, Daten über sich und ihren Körper zu gewinnen. „Quantified Self – das quantifizierte Ich“ heißt die Bewegung, die ihre ersten Communities vor fünf Jahren in den USA gegründet hat und jetzt über Europa hinweg weiter Richtung Osten zieht. Am Anfang standen die Hightechjournalisten Kevin Kelly und Gary Wolf, die das Zusammenwachsen von Mensch und Maschine zur stetigen Optimierung beider Seiten forderten. Heute gibt es Tausende von Fans, die physiologische Details aller Art sammeln, korrelieren, interpretieren und sich gegenseitig zeigen.
Was wie eine bloße Marotte von Zwangsneurotikern aussieht, wird mittlerweile offiziell anerkannt. Zuletzt war es das englische Gesundheitsministerium, das Nutzer nach den besten Apps fragte, über die man das eigene Wohlbefinden dauernd im Blick behalten kann. Der Minister träumte von einem Gesundheitswesen, in dem jeder sich selbst kontrolliert und seine Daten den Ärzten und Versicherern zur Verfügung stellt.
Solche Ideen rufen Datenschützer, Psychologen und Medienpädagogen auf den Plan. Die einen fürchten, dass das Individuum von fremden Mächten überwacht und mit Werbung überflutet wird. Die anderen, dass die Nutzer sich zu sehr auf obskure Programme verlassen. Bei vielen Nutzern scheinen die technischen Möglichkeiten Abhängigkeiten zu schaffen, aus denen das Individuum nicht mehr herausfindet. Weil man sich mit seinem Smartphone eben nicht wirklich ergründen kann, wird das Experiment mit sich selbst nicht abgebrochen, sondern einfach die nächste App heruntergeladen.
Kritiker der Netzkultur sehen hinter der modischen Ich-Quantifizierung aber noch ein anderes Problem. Die dauernde Datenerhebung mit anschließender Prüfung und Übersetzung in neue Ess-, Lese-, Schreib-, Lauf-, Schlaf- und womöglich auch Sextrainingspläne, erinnert sie fatal an die Methoden der Qualitätsmanager und Unternehmensberater, die andere zur Leistungssteigerung motivieren wollen. Wer nicht jeden Tag ein bisschen besser wird, brennt aus oder fliegt raus. Die Zahlen und Skalen, die Torten und Balken regieren über das Individuum.
Dieser kulturkritische Reflex ist interessant. Er reagiert allergisch auf etwas, das in der Zeit vor App, Tablet und Smartphone noch nobilitiert war. Das Tagebuch zählte in der alphabetisierten Kultur von Beginn an zu den wichtigen Medien der Selbsterkenntnis, Ich-Optimierung und Selbstkosmetik eingeschlossen. Erlebnisse aufzuschreiben, Reflexionen und Stimmungen ebenso festzuhalten wie Wetterdaten, Mahlzeiten, Geburtstage, Kopfschmerzen oder Menstruationen, zählt dabei zu den großen Selbstverständlichkeiten. Es gehört zur Grundregel der Lebenskunst des neuzeitlichen Individuums, dass es sich selbst niemals aus den Augen verlieren darf. Die Inflation der Notizbücher beweist heute noch: Wer etwas auf sich hält, der hält fest, was um ihn herum und in ihm drin passiert.
Dass sich das nun ohne Papier und Handschrift erledigen lässt, irritiert die Kritiker. Noch irritierender ist: Mit den Smartphones beobachtet man sich umfassender und schneller. Aus der Retrospektive der Buchkultur, der Reflexion im Nachhinein, rutschen die User ins Livetracking. Die Rückkoppelung findet jetzt statt. Die Ergebnisse werden in jenem Moment generiert, in dem sie entstehen. Und sie haben unmittelbaren Einfluss auf das, was man im nächsten Moment tut.
Damit wird die alte Kultur der Selbstbeobachtung und Befragung radikalisiert. Zugleich wird sie so grundsätzlich renoviert, dass sie kaum noch wiederzuerkennen ist. In was sie sich dabei verwandelt, ist nicht klar. Wir ahnen nur, welche Möglichkeiten sie den Usern an die Hand geben wird. Und wir können nur hochrechnen, welche eigenartigen Folgen das haben wird.
Wer die Veränderungen verstehen will, kommt nicht umhin, damit zu experimentieren. Man muss selbst ein Labor eröffnen, in dem man an sich ausprobiert, was mit der Kultur im Großen und Ganzen passiert. Wenn ich laufe, tue ich genau das. Wenn mir das mitten auf der Strecke wieder schlagartig klar wird, dann kommt der Flow. Zwischen Kilometer acht und elf setzt die große Euphorie ein. Und dann laufen die Sachen und ich mittendrin für kurze Zeit ganz einfach so, als liefe tatsächlich alles von selbst.
Stephan Porombka, Jahrgang 1967, ist seit 2007 Professor für Literaturwissenschaft und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Er twittert unter @stporombka. Porombka ist Mitbegründer von "Litflow", einem Think Tank, der sich mit der Zukunft der Literatur beschäftigt. Die nächste öffentliche Veranstaltung von "Litflow" findet am 28. und 29. September im Berliner Theaterdiscounter statt.
Stephan Porombka