Grimme-Preis: Sieg im Schacht
Der Berliner Filmemacher Jakob Preuss dreht mit „The Other Chelsea“ eine Donezk-Doku – und gewinnt Publikum und Auszeichnungen.
Nein, absehbar war das alles nicht, und ein leises Staunen ist Jakob Preuss immer noch anzumerken, wenn der 36-jährige Berliner Filmemacher über den Erfolg von „The Other Chelsea“ spricht. Ein Dokumentarfilm über eine Industriestadt an Europas östlichem Rand, deren Name hierzulande kaum Assoziationen, dafür aber Ausspracheprobleme auslöst? Klingt abseitig. Dass Preuss’ Porträt der ukrainischen Provinzmetropole Donezk trotzdem zum Festivalerfolg wurde, dass dem Regisseur am gestrigen Freitagabend schließlich auch noch der Grimme-Preis verliehen wurde – wer hätte es ahnen sollen?
Andererseits war vieles an diesem Film nicht absehbar, von Anfang an nicht. Als Preuss 2004 zum ersten Mal nach Donezk reiste, war er nicht als Filmemacher unterwegs, sondern als Wahlbeobachter der OSZE. Er überwachte jene von Fälschungsvorwürfen überschattete ukrainische Präsidentschaftswahl, die kurz darauf in die „orangene Revolution“ münden sollte. In Donezk freilich war von Revolutionsstimmung wenig zu spüren. Im Gegenteil, die Menschen hier standen den Straßendemonstrationen in den westlichen Landesteilen skeptisch, oft feindselig gegenüber – aus Gründen, die Preuss nicht halb so verkehrt fand, wie sie in der westlichen Presse meist dargestellt wurden. Das konstruierte Medienbild eines Konflikts zwischen Russland und der „freien Welt“, auch die implizite Unterstellung, die Ostukrainer könnten nicht für sich selbst denken. All das brachte Preuss auf den Plan, Donezk genauer unter die Lupe zu nehmen.
Damit aber war noch nicht absehbar, dass „The Other Chelsea“ letztlich ein Fußballfilm werden sollte. Eher zufällig besuchte Preuss bei seinen Vorrecherchen ein Spiel des Lokalklubs Schachtjor Donezk, bei dem er ein paar Kohlekumpels kennenlernte. Zufällig landete er mit diesen Schachtarbeitern abends vor dem Fernseher – und wurde auf einen jungen Lokalpolitiker aufmerksam, der mit polternden Parolen gegen den Westen hetzte. Am Ende dieser Zufallskette stand schließlich die Besetzung für „The Other Chelsea“: die ärmliche Belegschaft eines Kohleschachts, ein korrupter, dabei nie ganz unsympathischer Jungoligarch – und mittendrin ein aufsteigender Fußballklub, an dem die Hoffnungen der einen wie des anderen hängen. Dass Schachtjor Donezk dann auch noch just in jener Saison, die Preuss filmend in der Ukraine verbrachte, überraschend den Uefa-Cup gewann – nein, auch das war nicht absehbar.
Die größte Überraschung aber bleibt für Preuss die einhellige Zustimmung, mit der sein Film schließlich im Osten wie im Westen Europas aufgenommen wurde. Schon am Rand der Uraufführung in Kiew, zu der die Kohlekumpels eigens aus Donezk anreisten, gab es trotz aller fortbestehenden politischen Spannungen rührende Szenen der Verbrüderung zwischen West- und Ostukrainern, zu besichtigen im Bonusmaterial der inzwischen erhältlichen DVD-Fassung von „The Other Chelsea“. Gleichzeitig traf der Film auch in Preuss’ Herkunftsland einen Nerv – nicht obwohl, muss man vermuten, sondern gerade weil er in seiner Annäherung an Europas östlichen Rand die üblichen Interpretationsmuster meidet, weil er sich seinen Protagonisten, selbst den problematischen, nie polemisch, sondern einfühlend nähert, weil er „mit den Aufsteigern wie mit den Abgestiegenen agiert“, wie es in der Jury-Begründung des Grimme-Preises heißt.
Für Preuss Grund genug, sich als Filmemacher auch weiterhin mit europäischen Randthemen zu beschäftigen. Derzeit wirbt er um die Finanzierung seines vierten Dokumentarfilms, in dem es um die Grenzen der Europäischen Union gehen soll – im geografischen, politischen und mentalen Sinne. Jens Mühling
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