Detektiv-Serie: Sherlock Holmes, der Soziopath
Die Talks machen Sommerpause, doch es gibt einen guten Lückenfüller: Jeweils am Sonntagabend zeigt das Erste drei Teile der BBC-Serie "Sherlock Holmes". Der Detektiv muss dabei allerdings nicht nur gegen Verbrecher kämpfen.
Eine Serie von rätselhaften Todesfällen beunruhigt London. Mehrere Menschen, zwischen denen es offenbar keine Verbindung gibt, haben eine Kapsel mit Gift geschluckt. Anzeichen von Gewalt findet die Polizei nicht. Also Selbstmord. So verkündet es auch Inspector Lestrade vor der Presse. Doch bei nahezu jeder seiner Aussagen brummen die Mobiltelefone der versammelten Journalisten und ein vielstimmiges „Falsch“ schwebt im Raum. Lestrade, zunehmend genervt, weiß natürlich, wer da seine Theorie per SMS in Echtzeit zerpflückt: Sherlock Holmes ist wieder da, der „consulting detective“ aus der Baker Street 221b in London.
Ende des 19. Jahrhunderts schuf Arthur Conan Doyle den vielleicht berühmtesten Helden der Kriminalliteratur, der schon damals der Polizei dank seiner phänomenalen Beobachtungsgabe immer einen Schritt voraus war. Sherlock Holmes ist der Vorfahre aller kühl und rational kombinierenden Ermittler, aber er scheut auch nicht das Abenteuer. Ein Klassiker, der gerade mal wieder höchst lebendig ist. Noch in diesem Jahr soll der zweite Hollywood-Film mit Robert Downey jr. in der Hauptrolle in die Kinos kommen. Und im vergangenen Jahr überraschte die BBC mit einem Fernsehdreiteiler, der die Doyle-Geschichten clever ins London der Gegenwart versetzte, temporeich, mit Witz und gepfefferten Dialogen. Auch in der synchronisierten Fassung ist das noch ein großes Vergnügen.
In Großbritannien war die Miniserie ein Sommerhit, eine zweite Staffel ist in Arbeit. Sehr erfreulich, dass die ARD sich die Rechte sicherte. Weniger erfreulich, dass sie die drei SherlockHolmes-Filme als ersten Pausenfüller zwischen „Anne Will“ und dem neuen Sonntags-Talk „Günther Jauch“ einsetzt – und damit parallel zu den „Protectors“ im ZDF. Welchen Sinn es machen soll, dass die wenigen hochkarätigen Auslandsserien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch noch gegeneinander antreten, bleibt ein Rätsel, das wohl nur ein Sherlock Holmes auflösen könnte.
Statt Pfeife zu rauchen, trägt der ins 21. Jahrhundert versetzte Detektiv Nikotinpflaster auf. Und statt einer Deerstalker-Mütze trägt Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch seinen schwarzen Lockenkopf zur Schau. Sein Holmes ist ein faszinierender Anti-Held, arrogant bis zur Schmerzgrenze, ohne erkennbares Mitgefühl, ein „Soziopath“, wie er selbst sagt, nur an der Aufklärung verbrecherischer Rätsel interessiert.
Zum Blitzgescheit kommt noch das Blitzschnell hinzu, denn natürlich lässt der Holmes der Gegenwart die Finger über die Tastaturen seines schicken Laptops und seines Smartphones fliegen wie kein Zweiter.
Das Medienzeitalter fordert seinen Tribut, doch seine verblüffende Beobachtungsgabe ist geblieben. Ein Blick auf den Zustand des Eherings – und Holmes weiß schon, wie glücklich die Eheleute waren. Ein Blick bei der ersten Begegnung auf den humpelnden Dr. Watson (Martin Freeman) – und Holmes weiß schon, dass der die Schmerzen nur simuliert. Eine schnelle Bildfolge oder auch mal eine Zeitlupe, ein bisschen visueller Schnickschnack hie und da: Die Mittel des modernen Fernsehens werden gekonnt genutzt, um mit dem gedanklichen Tempo von Holmes Schritt zu halten. Schwer genug ist es trotzdem.
Bei der Figurenzeichnung gibt es dagegen eher ein Zurück zu den Anfängen. Wie in der literarischen Vorlage ist Watson hier kein trotteliger Assistent, zu dem ihn manche Verfilmung gemacht hat. Dem Original folgend, zieht Watson im ersten Film („Ein Fall von Pink“) bei Holmes in der Baker Street ein und begleitet den Detektiv fortan bei dessen Ermittlungen. Dass die Doyle’sche Idee, Watson habe sich eine Verletzung im Afghanistan-Krieg zugezogen, heute noch ebenso passt, ist allerdings eine böse Pointe der Geschichte. Thomas Gehringer
„Sherlock – Ein Fall von Pink“, 21 Uhr 45, ARD