Fernsehen: Reflexe des Schreckens
Im ARD-Film „Keine Angst“ stellt sich eine 14-Jährige gegen die Hoffnungslosigkeit in einer Kölner Trabantenstadt.
Eine Hochhaussiedlung am Rande von Köln. Hier kann man sie sehen, die Kinderarmut, an den Straßenrändern, in den Treppenhäusern, auf der Sozialstation. Kindern macht Armut noch nicht wirklich was aus. Sie leiden unter etwas anderem: unter Streitigkeiten der Eltern, unter Schlägen und Schreien, unter Rohheit und Vernachlässigung. Becky weiß das. Sie ist erst vierzehn, sie lebt in der Hochhaussiedlung. Sie hat drei kleine Geschwister, denen sie die Mutter ersetzt. Dabei gibt es die Mutter. Aber sie ist alkoholkrank und völlig außerstande, die Kleinen zur Tagespflege zu bringen und abzuholen, sie elementar zu versorgen. Die Dame vom Jugendamt will sie zum Entzug schicken und die Kinder ins Heim stecken. Doch Becky bettelt um Nachsicht. Sie sei doch für die Geschwister da. Zögernd lässt das Jugendamt den Dingen ihren Lauf.
Und die geraten ganz aus dem Geleise, als auch Becky nicht mehr funktioniert. Denn in Gestalt des Sonderlings Bente ist die Liebe in ihr Leben getreten. Und immer öfter ist auch Becky nicht zur Stelle, wenn die Tagespflegestelle schließt.
Der Regisseurin Aelrun Goette ist es gelungen, das Milieu der prolligen Stadtrandsiedlung in all seiner Schäbigkeit und Freudlosigkeit so mit der Helligkeit und Hoffnungsfülle dieser jungen Liebe zu kontrastieren und zu verquicken, dass das Elend leuchtet und die Kinderarmut ihren Schrecken verliert. Wo Menschen sind und Liebe möglich ist, sagt dieser Film, da ist auch eine Hochhaussiedlung nicht mehr nur fürchterlich, und Geld ist egal. Allerdings bleibt diese These im Reich der Möglichkeiten hängen. Die Wirklichkeit, so wie sie in „Keine Angst“ durchschlägt, tut viel, um sie zu widerlegen.
In Michelle Barthel und Max Hegewald als Becky und Bente standen der Regisseurin zwei Jungdarsteller von außergewöhnlicher Präsenz und Zartheit zur Verfügung. Carolyn Sophia Genzkow als Beckys beste Freundin Melanie, eine verwegene Kiez-Amazone, die nichts mehr erschüttern kann, ergänzt die Riege der großartigen jungen Schauspieler(innen). Dagmar Leesch überzeugt als Mutter Corinna mit guten Absichten und schlechter Prognose. Frank Giering ist der Loser Thomas, der sich damit abgefunden hat, dass er von Beruf Angler bleiben wird.
Martina Mouchot hat ein kluges Drehbuch verfasst, das die Brennpunkte des Milieus – Schule, Jugendgang, Sucht, häusliche Tristesse und hilfloser Sozialstaat – in eine stimmige realistische Beziehung setzt. Aelrun Goettes Regie besticht durch bravouröse Schauspielerführung und faszinierende filmische Einfälle. Ein Beispiel: Gegen Ende des Films ereignet sich eine Vergewaltigung in der Wohnung von Becky und ihrer Familie. Während die Tat geschieht, geht die Kamera (Matthias Fleischer) nicht mit, sondern verweilt auf den Gesichtern der Kinder. Die verstehen vielleicht noch nicht, was da vor sich geht, sie beobachten den Hergang auch nicht direkt, sie hören nur das Stöhnen, Keuchen, Jammern. Angst, Weh und erste Zeichen der Abstumpfung stehen in ihren kleinen Gesichtern geschrieben. Diese Reflexe des Schreckens auf dem Antlitz der Unschuld sind viel grausamer, als es die direkte Zeugenschaft des Gewaltaktes sein könnte.
„Keine Angst“, ARD, 20 Uhr 15
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