Thema Kindesmisshandlung: Private Krimis
"Stumme Schreie", "Tatort Kinderzimmer": Spielfilm und Dokumentation im ZDF zeigen die Dilemmata im Umgang mit Kindesmisshandlungen.
Ein Verdacht schwebt im Raum, ein Verdacht, wie eine drohende Macht. Undenkbar ist es für den bürgerlichen Herrn Lohmann, dass seine gepflegte Frau den kleinen Sohn misshandelt haben soll. „Der Junge ist nicht zu bändigen!“ Paul habe sich selbst verletzt. Während Lohmann in der Klinik an der Seite des Rechtsmediziners Professor Bremer (Juergen Maurer) auf seinen Anwalt wartet, demonstriert ihm der Arzt, worauf das Foto der Brandmale auf Pauls Handfläche deutet.
Dazu schüttet er Zucker auf den Tisch und bittet den Vater, seine Hand daraufzulegen. Na gut, er tut es. Die Körner haften an Fingerkuppen wie Rändern der Hand. Dann drückt der Arzt mit Kraft auf Lohmanns Handrücken, und die Zuckerkörner heften sich an die gesamte Handfläche. Derart fest muss man pressen, klärt Bremer auf, damit sich „auch in der Hohlhand" Spuren zeigen. So muss die Mutter Pauls Hand auf die heiße Herdplatte gepresst haben. Herr Lohmann solle sich um die frustrierte Hausfrau kümmern, die ohne Beruf und abgeschlossenes Studium den Erfolgen ihres Mannes zusieht. Der Vater wirkt zumindest aufgerüttelt.
Rechtsmedizin und Gewaltambulanz einer fiktiven Berliner Klinik sind die zentralen Schauplätze des explosiven Spielfilmdramas „Stumme Schreie“, den das ZDF am Montagabend, gefolgt von der Dokumentation „Tatort Kinderzimmer“, ausstrahlt. Basis für Torsten Näters Drehbuch ist der Bestseller „Deutschland misshandelt seine Kinder“ von Michael Tsokos und Saskia Guddat, der 2014 Furore machte. Es versagen „die staatlichen Institutionen, die Medizin und die Justiz auf ganzer Linie“, klagten die beiden Rechtsmediziner der Charité. 2018 lag die offizielle Zahl solcher Delikte bei 136, Experten schätzen die Dunkelziffer für Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge höher ein. Kindesmisshandlung, sagte Tsokos als Botschafter des „Deutschen Kindervereins“, müsse Thema „aller Ärzte“ werden.
Alle drei bis fünf Tag stirbt ein Kind
Davon ist Deutschland weit entfernt. Alle drei bis fünf Tage stirbt ein Kind im Land einen vermeidbaren Tod durch Einwirkung Erwachsener. „Häusliche Gewalt“ wird meist abgehandelt als „Familientragödie“, wie ein Schicksalsschlag. Kindesmisshandlungen, deren Zahl in Deutschland auf 200 000 pro Jahr geschätzt wird, gelten quasi als private Krimis mit Kindern als Opfern. Die Folgen sind der Alltag von Forensikern wie Tsokos und Guddat (inzwischen verheiratete Etzold). Sie diagnostizieren die Hämatome, die Schädelfrakturen, Gehirnerschütterungen und Knochenbrüche, die Verbrennungen, Verbrühungen, Schürfungen und Striemen auf den Körpern der lebenden oder toten Kinder.
Der Spielfilm in der Regie von Johannes Fabrick konzentriert sich auf den Fall einer mittellosen Berliner Familie, mit dem die schockierte junge Assistenzärztin Jana Friedrich (Natalia Belitski) unter Leitung von Bremer konfrontiert ist. Herausragend spielen Hanna Hilsdorf und Julius Nitschkoff das prekäre Paar, die Mutter Nicole Binder und deren Lebenspartner, den vor Aggression dauerbrodelndem Arbeitslosen Ronnie. Nicole hat drei Vorschulkinder, Desiree, Jason und Justin, der noch ein Baby ist, und weiß mit dem Nachwuchs wenig anzufangen. „Haste vajessen, wo die Küche is?“ schnauzt sie den hungrigen Jason an, der zum Kühlschrank trabt und irgendetwas Essbares hervorzerrt. Die Mutter raucht, die Kinder toben, der Mutterpartner raunzt in sein Smartphone, und das innere Chaos der Familie spiegelt sich im Äußeren wider. Wie zerklüftet scheint die Landschaft der Hochhauswohnung, in der Junkfoodverpackungen, CD-Player, Spielzeug und Aschenbecher herumfliegen. Und eines Tages liegt Baby Justin, bewusstlos geschüttelt, im Bett.
Keiner ist verantwortlich?
Der Staat ist durchaus da – schon längst die Familienhelfer vom Jugendamt, jetzt auch die Ärzte, die das Schütteltrauma des Babys feststellen. Doch die Mutter schützt den verdächtigten Ronnie, eine Sozialarbeiterin die „überforderte“ Mutter. Bei den Ärzten heißt es „Wir sind keine Ermittler!“. Beim Jugendamt: „Wir sind nicht die Spitzel der Polizei!“ Der Hausarzt in der Hochhaussiedlung fürchtet, dass die Leute nicht mehr kommen, wenn sie argwöhnen, dass er Verdachtsfälle den Behörden meldet. Teils etwas lehrfilmhaft werden die Dilemmata ausbuchstabiert, an denen die junge Medizinerin fast verzweifelt, bis sie das Gesetz bricht, um einzugreifen. Packend bleibt der Spielfilm durchweg, und informativ schließt die dichte Dokumentation von Liz Wieskerstrauch sich an. Auch der Gesundheitsminister Jens Spahn sollte diese beiden mutig aufklärenden Beiträge sehen – und ohnehin alle, die beruflich oder privat Verantwortung für Kinder tragen.
„Stumme Schreie“, ZDF, Montag, um 20 Uhr 15, „Tatort Kinderzimmer“, um 21 Uhr 45
Caroline Fetscher