Interview zu Internet-Sucht: "Nur an den Nutzungszeiten kann man es nicht festmachen"
Der Psychologe Kai Müller spricht mit dem Tagesspiegel über die Ursachen und Folgen von Online-Sucht, und wie man sie therapieren kann.
Drei, vier, fünf Stunden täglich im Netz: Ab wann beginnt Onlinesucht?
Nur an den Nutzungszeiten kann man das nicht festmachen. Es gibt eine Reihe von Kriterien, die man von anderen Suchterkrankungen kennt. Die Symptome können sich sehr unterschiedlich äußern: durch Entzugserscheinungen, erhöhte Reizbarkeit, Aggressivität, Niedergeschlagenheit oder Unruhe.
Gibt es verschiedene Formen der Onlinesucht?
Eine häufige Form ist die Online-Spielsucht. Recht ähnlich in ihrer Struktur ist die Online-Glücksspielsucht. Eine andere Form bezieht sich auf kommunikationsbasierte Inhalte wie soziale Netzwerke, hier sind in einem höheren Maß Frauen betroffen. Dort verbringen Süchtige viel Zeit mit exzessiven Bemühungen, beispielsweise ihre Profile zu aktualisieren oder permanent mit anderen per Chat oder E-Mail zu kommunizieren. Es gibt aber auch Fälle von Sex- oder Kaufsucht.
Gibt es das typische Profil?
Viele haben ein Defizit, persönliche Erfolge wahrzunehmen. Außerdem weiß man, dass Menschen gefährdet sind, die eine niedrige Stressschwelle haben und sich schnell überfordert fühlen. Ein anderer Aspekt ist die Ursache sozialer Unsicherheit. Viele Internetsüchtige haben zum Beispiel Schwierigkeiten auf andere zuzugehen oder von sich zu erzählen.
Wie genau unterscheiden sich eigentlich Onlinesüchtige von Drogenabhängigen?
Internetsucht ist eine Verhaltenssucht. Aber nach dem, was man bisher weiß, hat man auf psychischer Ebene die gleichen Effekte wie bei toxisch wirkenden Drogen. Nämlich, dass sich dabei das vom Botenstoff Dopamin gesteuerte Belohnungssystem fast genauso verändert. Im Normalfall springt es immer dann an, wenn ich etwas Schönes erlebe. Bei Suchterkrankungen funktioniert dieses Gefühl nur noch dann, wenn der Suchtreiz erfüllt wird.
Sie therapieren Onlinesüchtige. Wie gehen sie in ihrer Klinik genau vor?
Wie bei der Behandlung von anderen Suchterkrankten nutzen wir klassische Methoden. Beispielsweise leisten wir am Anfang viel Motivationsarbeit, weil Süchtige in dieser Zeit ständig am Schwanken sind. „Will ich mich verändern oder gibt die Droge mir so viel, dass ich dabeibleiben will?“ Es ist eine konstante Ambivalenz, der die Betroffenen ausgesetzt sind. Deshalb versuchen wir in der Therapie herauszuarbeiten, was aufgrund der Sucht schiefgelaufen ist oder verpasst wurde: beispielsweise keine Freunde mehr zu haben, dass die Beziehung in die Brüche gegangen ist oder der Job verloren wurde. Bei Jugendlichen ist es oft ein Schulabbruch. In der Regel kommen unsere ambulanten Patienten zweimal die Woche zu uns. Bei schweren Fällen in einer stationären Behandlung verbringen sie dort meist vier bis sechs Wochen.
Und ist die Rückfallquote ähnlich hoch wie bei Alkohol- oder anderen Drogenabhängigen?
Das ist noch nicht heraus – eine Langzeitstudie läuft. Doch unsere Erfahrung bisher ist, dass die Rückfallquote geringer ist. Wir sprechen von einer Erfolgsquote von 75 Prozent.
Das Interview führte Hadija Haruna.
Kai Müller ist Diplompsychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ambulanz für Spielsucht am Uniklinikum Mainz. Dort betreibt er Forschung und Diagnostik speziell im Bereich der Onlinesucht.
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